Der Mord an Marwa el-Sherbini – Verschleierungen und Versäumnisse

Von Silvia Horsch

Am 1. Juli 2009 hat ein Mord aus Fremdenfeindlichkeit und Islamhass stattgefunden. Das Motiv ist vielleicht selten so offensichtlich wie in diesem Fall: Der Täter, Alex W. hatte die kopftuchtragende Marwa el-Sherbini ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz als „Islamistin“ „Moslemschlampe“ und „Terroristin“ beschimpft. Ein Dresdner wurde Zeuge dessen und rief die Polizei, es kam zu einem Verfahren wegen Beleidigung. Zusammen mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn lebte Marwa el-Sherbini seit wenigen Jahren in Dresden, wo sie als Apothekerin arbeitete und ihr Mann am Max-Planck-Institut promovierte. Alex W. wurde zu einer Geldstrafe von 780 Euro verurteilt, ein Urteil, das aufgrund von weiteren menschenverachtenden Äußerungen während des Prozesses von der Staatsanwaltschaft als zu milde, von ihm selbst als ungerechtfertigt angesehen wurde. Im Berufungsverfahren sagte Marwa el-Sherbini als Zeugin aus. Nach ihrer Aussage stürzte sich Alex W. mit den Worten „Du hast kein Recht zu leben!“ auf sie und metzelte sie mit 18 Messerstichen (innerhalb von 30 Sekunden) nieder. Ihr Ehemann, Elvi Ali Okaz, wurde beim Versuch sie zu schützen von einem zu Hilfe gerufenen Polizisten irrtümlich angeschossen. Marwa el-Sherbini starb noch im Gerichtssaal, sie war im dritten Monat schwanger. Ihr Mann wurde schwer verletzt und der dreijährige Sohn musste alles mit ansehen. Die Familie wollte in drei Monaten nach Ägypten zurückkehren – nun ist sie zerstört.

Die wichtigen Fragen wurden nicht gestellt

In den ersten Tagen wurde über das Verbrechen unter Überschriften wie „Zeugin von Angeklagtem vor Gericht erstochen“, und „Streit um eine Schaukel“ in der Rubrik „Panorama“ und „Vermischtes“ berichtet. Man dachte an ein Gerichtsdrama und einen eskalierten Nachbarschaftsstreit – schreckliche Dinge, die aber nun mal leider vorkommen.
Dann wurden die Motive „Rassismus“ und „Ausländerhass“ aufgrund der ägyptischen Herkunft von Marwa el-Sherbini vermutet und vom Sprecher der Staatsanwaltschaft mittlerweile auch bestätigt. Ihr Kopftuch, das sie als Muslimin erkennbar machte, wurde in den meist kurzen Artikeln der ersten Tage zwar ab und an erwähnt, aber die Frage nach einem islamophoben Hintergrund der Tat nicht gestellt.

Eine Woche später fragt sich Andrea Dernbach im Tagesspiegel und der Zeit:

Warum ist der Tod einer Kopftuchträgerin, die nicht Opfer eines Ehrenmords wurde, eine Woche lang nur eine kurze Meldung in den Nachrichtenagenturen und auch für die politischen Institutionen kein Grund, auch nur zu zucken?

Sie stellt folgende Vermutungen an:

Könnte es sein, dass dieser Tod – es wird wegen Mordes ermittelt – nicht in unser Raster passt? […] Vielleicht schaut man da weg, weil das Hinschauen zu viele populäre Dogmen Lügen strafen würde. Den Lehrsatz Bildung ist der Schlüssel zur Integration zum Beispiel. Hier starb eine junge bestausgebildete Frau, verheiratet mit einem Landsmann, der in Sachsen am angesehenen Max-Planck-Institut arbeitete – wer weiß, ob das die Wut des Täters nicht sogar gesteigert hat? Oder nehmen wir den: Islam und westliche Gesellschaft passen nicht zusammen. Marwa E. wehrte sich auf eine nicht nur rationale und zivile, sondern nebenbei auch überaus deutsche Weise: Statt zurückzubrüllen oder zuzuschlagen, erstattete sie Anzeige. Und eine weitere Wahrheit sollte schmerzen: Die Assoziation Islam, Islamist, Terrorist, das alles ausgelöst durch den Anblick eines Menschen mit etwas dunklerer Haut und einem Kopftuch, lässt sich schwer als Einzelfall abtun.

Über die Versäumnisse der Medien berichtet auch The Guardian.

Solche und solche Opfer

Mich erinnert die Berichterstattung auch an den medialen Umgang mit den Ergebnissen einer Studie, die vom BMFSFJ in Auftrag gegeben und im Januar 2007 veröffentlicht wurde. Es ging um „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Zwei der Ergebnisse lauteten:

  1. 38% der türkischen Migrantinnen erlebten Gewalt durch den eigenen Partner, gegenüber 25% der mehrheitlich deutschen Gruppe der Hauptuntersuchung,
  2. 61% der türkische Migrantinnen haben psychische Gewalt durch wenig oder nicht bekannte Personen im öffentlichen Raum erlebt (gegenüber 42% der mehrheitlich deutschen Frauen) und 54% geben an, aufgrund des Geschlechts, des Alters oder der Herkunft benachteiligt oder schlecht behandelt worden zu sein (gegenüber 26%).

Welches Ergebnis wurde in den Medien häufig erwähnt und welches wurde kaum thematisiert? Richtig geraten. Eine muslimische Frau ist als Opfer ihres eigenen Ehemanns, Vaters oder Bruders offenbar viel interessanter denn als Opfer fremden- und islamfeindlicher Personen in ihrer Umgebung.

Fassungslosigkeit in Ägypten

Dass sich die Medien schließlich der Islamophobie doch noch annehmen, liegt nicht daran, dass eine Frau aus islamfeindlichen Motiven ermordet wurde, sondern an den Protesten im Ausland, vor allem bei der Beerdigung Marwa el-Sherbinis in Ägypten, und der dortigen Berichterstattung, die Islamhass in Deutschland beklagt. Auslandskorrespondenten berichten darüber und kritisieren die spärlichen Reaktionen von Politik und Medien:

„‘Schwangere Deutsche in Ägypten erstochen!‘ Was wäre da los. Wie würden die deutschen Medien berichten, wie würden die Deutschen reagieren, fragt der aufgebrachte junge ägyptische Blogger Hischam Maged. „Wie würde darüber berichtet, wenn eine westliche Frau irgendwo auf der Welt – Gott verbiete im Nahen Osten – von einem muslimischen Extremisten niedergestochen worden wäre? schreibt er. Eine Frage, in der eine Menge Wut, Fassungslosigkeit und Ärger steckt.“ (taz.de 09.07)

Ablenkungsmanöver und Verdrängungsstrategien

Nach solchen Nachrichten echauffiert man sich in der Welt über „emotionale Debatte über den Mord“ und weist darauf hin, dass Deutschland jetzt – nachdem Axel Köhler (KRM) auf eine islamophobe Stimmung bis in die Mitte Gesellschaft aufmerksam gemacht hat – stärker durch islamistische Anschläge gefährdet sei. Die Suedddeutsche hält fest, dass „die mörderische Tat des erst 2003 nach Deutschland gekommenen Mannes mindestens so viel über die in Russland vorherrschende Islamphobie aussagt wie über Fremdenfeindlichkeit in Deutschland.“ Islamophobie gibt es demnach nur in Russland. Überhaupt fällt oft auf, dass die Herkunft von Alex W. in einer Art und Weise in den Vordergrund gestellt wird, die die Frage nach einer möglichen Mitverantwortung der deutschen Öffentlichkeit für eine solche Tat gar nicht erst aufkommen lassen soll. Der Täter ist ein „Ausländer“ wird auf diese Weise suggeriert (was das Motiv des „Ausländerhasses“ allerdings ungewollt erklärungsbedürftig macht).

So was wie Dich sollte man die Wand stellen

Es fällt den Medien, aber auch der Politik ganz offensichtlich schwer, Islamophobie als Phänomen ernst zu nehmen und in diesem Mordfall als Hintergrund der Tat angemessen zu thematisieren. Mit Sicherheit ist Alex W. ein Rassist und fremdenfeindlich. Aber es gibt mittlerweile eine islamophobe Unterart des Rassismus, die mit dem Kriterium der „Rasse“ zwar verbunden werden kann, aber auch ohne „Rasse“ auskommt und nur auf die Religionszugehörigkeit abzielt. (Ich selbst wurde vor einiger Zeit abends im Bus von einem jungen Mann mit den Worten bedroht: „So was wie Dich sollte man an die Wand stellen!“ Meine deutsche Herkunft war ihm nur ein noch größeres Ärgerniss.) Rassismus/Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie als Motive gegeneinander auszuspielen, macht keinen Sinn. Ebensowenig macht es Sinn, nur über die Begriffe und nicht über die damit bezeichneten Phänomene zu diskutieren. (Zum mißverständlichen Begriff der Islamophobie vgl. Heiner Bielefeld, Das Islambild der Deutschen: Gemeint sind damit nicht etwa generelle Ängste vor dem Islam (wie dies das Wort fälschlich suggeriert), sondern negativstereotype Haltungen gegenüber dem Islam und seinen tatsächlichen oder mutmaßlichen Angehörigen. Eine islamophobe Einstellung kann sich unter anderem in verbalen Herabsetzungen und Verunglimpfungen, strukturellen Diskriminierungen oder auch tätlichen Angriffen gegenüber Menschen mit muslimischem Hintergrund ausdrücken.

Endlich Reaktionen

In der taz und der FR wird schließlich das Phänomen beim Namen genannt: „Man nennt es Islamophobie“ (Hilal Sezgin) und „Mord mit islamfeindlichem Hintergrund?“. Zuvor hatten sich eine Reihe von Organisationen und Gruppen der Zivilgesellschaft kritisch zu Wort gemeldet, das Institut für Medienverantwortung, der Interkulturelle Rat, die islamischen Verbände zum Teil erstaunlich spät (der Koordinationsrat gab erst eine Woche später eine Erklärung ab), die Grünen Muslime, Vertreter der Wissenschaft, zu nennen sind hier insbesondere Iman Attia von der der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin und Peter Widmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (hier eine Studie von ihm zum Thema) und nicht zuletzt der Zentralrat der Juden. Deren Generalsekretär Stephan Kramer besuchte gemeinsam mit dem Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, den verletzten Ehemann. Kramer übte deutliche Kritik an den „unverständlich spärlichen“ Reaktionen von Politik und Medien.
In einem Beitrag für die Deutsche Welle wundert er sich zudem darüber, dass diese gemeinsame Aktion eines Juden und eines Muslims offenbar mehr mediale Aufmerksamkeit findet als der Mord selbst und schreibt:

Angesichts dieser Situation tut ein klärendes Wort Not. Ich bin nicht nach Dresden gefahren, weil ich als Jude Angehöriger einer Minderheit bin. Ich unternahm die Reise, weil ich als Jude weiß: Wer einen Menschen wegen dessen Rassen-, Volks- oder Religionszugehörigkeit angreift, greift nicht nur die Minderheit, sondern die demokratische Gesellschaft als Ganzes an. Deshalb ist nicht die Frage relevant, warum ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft Elwi Ali Okaz seine Trauer und Solidarität bekundete, sondern die, warum es nicht auch einen massiven Besucherstrom oder Solidaritätsadressen von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft gab? Warum kamen die Reaktionen der Medienlandschaft wie der Politik auf den Mord so spät? Jetzt wird, nicht zuletzt unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit, nachgebessert. Allerdings überzeugt erzwungene Betroffenheit nicht.

Nach massiven Forderungen verschiedener Politiker der Grünen, Linken, FDP und SPD gibt die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer am 10.07. (!) eine Presseerklärung ab.
Dem innenpolitischen Sprecher der Fraktion von CDU/CSU fällt hingegen nur folgendes ein: Wenn es ein politisches Phänomen wäre, dass typischerweise Russlanddeutsche auf islamische Frauen losgehen, dann müsste sich die Politik äußern, sagte Hans-Peter Uhl. Die Tat sei aber ein Einzelfall. Anscheinend brauchen wir erst eine Mordserie, bevor Christdemokraten erwägen, über die zunehmende Islamfeindlichkeit in Deutschland nachzudenken.

Antiislamische Hetze und islamophobe Einstellungen

Die islamischen Verbände, die Grünen Muslime und andere Institutionen haben in Stellungnahmen auf Webseiten und Gruppierungen, wie Politically Incorrect (PI) und Pro NRW hingewiesen, die islamfeindliche Einstellungen verbreiten. Die Artikel und Kommentare von PI-Lesern zeugen von einer nicht erträglichen und meiner Meinung nach nicht hinnehmbaren Menschenverachtung. Ähnliche Äußerungen wie auf PI finden sich auch in den Kommentaren zu Artikeln der Welt (Welt Online am 06.07.): Der Täter Alex W. wird als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet und für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen, ein Leser registriert erfreut „Ein Pinguin/Schleiereule weniger“ und einige Kommentare weiter unten ergänzt ein anderer: „ +Pinguinbaby ;o)“. Aus welcher Richtung diese Kommentare kommen, verdeutlicht ein weiterer Beitrag: „Die Züge gen Auschwitz müssen wieder rollen!“. Mittlerweile wurde aus bisher unbestätigter Quelle bekannt, dass es sich bei Alex W. um einen NPD-Wähler handeln soll, kurz vor dem Mord soll er ausgerufen haben: „wenn die NPD an die Macht kommt, ist damit (mit dem Lebensrecht für Muslime/Ausländer in Deutschland) Schluss“. Ein Artikel in der Zeit, der sich mit dem fremden- und islamfeindlichen Hintergrund der Tat befasst, wurde offenbar ähnlich kommentiert, denn die Moderatoren sahen sich (im Unterschied zu Welt online) genötigt, den thread zu schließen, nachdem sie einen Großteil der Beiträge zensieren oder gleich ganz löschen mussten.

Sicherlich sind dies die Ansichten einer radikalen Minderheit, die im Internet besonders lautstark ist. Nur stellt diese 1. – wie der Mord in Dresden deutlich gemacht hat eine reale Bedrohung für in Deutschland lebende Muslime dar, ist 2. mit Hilfe von Steuergeldern in rechtsextremen Parteien gut organisiert und 3. als extreme Spitze des Eisbergs ein Indikator für die in der deutschen Gesellschaft weiter verbreiteten Ressentiments, die sich z.B. im Verlauf der „Kopftuchdebatte“ auch in der Mitte der Gesellschaft ganz unverhohlen gezeigt haben, wie die frühere Ausländerbeauftragte Berlins, Barbara John, darlegt. Die im Verlauf dieser Debatte gefallenen Äußerungen über das Kopftuch nicht vom extremen Rand, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, von politischen und kirchlichen AmtsträgerInnen und bekannten Intellektuellen haben zu einer Atmosphäre beigetragen, in der viele meinen, ihrem Hass auf den Islam offen Ausdruck verleihen zu können. (Zum Islambild der Deutschen vgl. den bereits erwähnten, wichtigen Essay von Heiner Bielefeld.) Dass der verbalen Gewalt irgendwann die physische folgt, ist dann nur eine der Frage der Zeit.

Wo ist die Bundesregierung?

Es muss daher eine eindeutige Reaktion erfolgen und von Seiten der Politik Maßnahmen gegen Islamophobie ergriffen werden. Bis jetzt warten wir allerdings vergeblich auf das Mindeste, was man hätte erwarten können: Eine öffentliche Äußerung der Bundeskanzlerin oder des Bundesinnenministers. Bisher äußerte sich nur ein Sprecher, der noch bis zum 06.07. betonte dass, „die Umstände nicht hinreichend klar gewesen sind (!), um eine so weitreichende politische Erklärung abzugeben“ (freitag). Frau Merkel hat am Rande des Gipfels mit Mubarak, dem Staatschef Ägyptens, darüber gesprochen (offenbar waren da die Umstände klarer) – als ob es sich bei dem Mord um ein Problem der internationalen Beziehungen handele, und nicht um einen Vorfall, der die in Deutschland lebenden Muslime und die deutsche Gesellschaft insgesamt betrifft. Dazu passt, dass sich zwar der Außenminister zu Wort meldet, um gegenüber seinem ägyptischen Amtskollegen zu betonen, dass Islamophobie keinen Platz in Deutschland habe was natürlich ein frommer Wunsch ist und keine Beschreibung der Realität, wie einschlägige Umfragen leider belegen. Der Innenminister aber – aller Islamkonferenz zum Trotz – hüllt sich in Schweigen und unterstützt lieber den Außenminister: Er hoffe, dass das deutsch-ägyptische Verhältnis durch die Tat nicht belastet werde, ließ er durch einen Sprecher ausrichten. Nun, das deutsch-ägyptische Verhältnis scheint sich durch eine vom deutschen Botschafter in Auftrag gegebene, großformatige Todesanzeige und Beileidsbekundung in der ägyptischen Tageszeitung al-Ahram wieder gebessert zu haben. Eine Adresse an die in Deutschland lebenden Muslime hingegen – Fehlanzeige. Das ist einfach beschämend. An die vier Millionen Muslime in Deutschland, die nicht nur durch den Mord, sondern auch (und vor allem!) durch die Reaktionen der Medien und der Politik verunsichert sind, ein persönliches Wort der Abscheu über diese Tat zu richten, wäre nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit sondern auch der politischen Vernunft gewesen.

Verstörende Schlussfolgerungen

Die Tatsache, dass (bis auf wenige Ausnahmen) erst die Proteste im Ausland Reaktionen der deutschen Politik und Mainstream-Medien hervorgerufen haben, stimmt mehr als nachdenklich. Offenbar befürchtet man eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen Deutschland und Ägypten, bzw. der islamischen Welt, die wie beim Karikaturenstreit auch wirtschaftliche Konsequenzen haben könnte (der ägyptische Apothekerverband hat zu einem einwöchigen Boykott deutscher Medikamente aufgerufen). Erst mit der Berichterstattung aus dem Ausland ließen sich die tatsächlichen Hintergründe der Tat nicht mehr herunterspielen. Man muss sich fragen, was passiert wäre, wenn es sich bei Marwa nicht um eine Bürgerin eines strategisch wichtigen arabischen Landes mit einer lebendigen Presselandschaft gehandelt hätte. Möglicherweise würden wir uns alle nur noch dunkel an einen Streit um eine Schaukel erinnern.

Ebenso bedenklich ist es, dass es erst einen Mord braucht, um Islamophobie zum Thema zu machen. Vor einigen Jahren gab es schon einmal beinahe ein Todesopfer: Eine junge Libanesin, Nasrine C., und ihre Schwiegermutter, beide Kopftuchträgerinnen, wurden im Januar 2002 in Berlin-Hellersdorf in der Straßenbahn von Nazi-Schlägern angegriffen und zusammengeschlagen. Von einer größeren Anzahl anwesender Passanten griff nur ein junger Mann und der Straßenbahnfahrer ein. Nasrine C. wurde lebensgefährlich verletzt, aber sie überlebte. Eine nachhaltige Debatte über Islamfeindlichkeit kam nicht in Gang ob es diesmal der Fall sein wird, bleibt erst noch abzuwarten.

Mittlerweile hat in Dresden eine Trauerfeier stattgefunden an der sich 1500 Menschen, Muslime und Nichtmuslime, darunter der SPD-Parteichef Müntefering, beteiligten. Er forderte, wie auch Politiker anderer Parteien politische Konsequenzen aus dem grausamen Mord. Diesen Forderungen müssen Konzepte und ihre Umsetzung folgen, damit dem Mord an Marwa el-Sherbini nicht weitere Gewalttaten folgen.

Muslimische Reaktionen

Im Internet wurde der Mord unter Muslimen von Anfang an heftig diskutiert. Die Reaktionen, die von großer Anteilnahme geprägt sind, haben eine große Bandbreite, die vom Bemühen um sachliche Information bis zu Verschwörungstheorien reicht. Der salafitische Prediger Pierre Vogel hat am Sonntag nach der Tat ein Totengebet und eine Kundgebung in Berlin mit 2000 Teilnehmern organisiert und stieß damit in eine Lücke, die die Verbände mit ihren zum Teil verspäteten Reaktionen gelassen hatten. Das Totengebet war eine wichtige Handlung, um Marwa auch in Deutschland die letzte Ehre zu erweisen und ihrer Familie zu zeigen, dass die Muslime in Deutschland an ihrem Schicksal anteilnehmen. Sich bei dieser Gelegenheit jedoch abfällig über die weichgespülten muslimischen Verbände zu äußern, ist mehr als unangemessen, da der Tod Marwas auf diese Weise zur Profilierung gegenüber anderen Gruppen ausgenutzt wird.
Auch die Märtyrerverehrung, die jetzt eingesetzt hat, erscheint mir bedenklich. Sicherlich ist es richtig, dass Marwa als Märtyrerin bezeichnet werden kann, insofern ihre (sichtbare) Religionszugehörigkeit ein maßgeblicher Grund für ihre Ermordung gewesen ist. Und dafür, dass Allah sie im Paradies für ihren gewaltsamen Tod auf das Beste entschädigt, beten wir alle. Die Formulierung Märtyrerin des Kopftuchs finde ich hingegen höchst problematisch. Sie suggeriert, dass das Kopftuch eine im Islam so wichtige Sache wäre, dass man für sie in den Tod gehen müsste und ist damit ein Beispiel für die nicht zuletzt durch die Kopftuchdebatte geförderte maßlose Überbewertung des Kopftuchs unter vielen Muslimen. Und mit Sprüchen wie Kopftuchträgerin bis zum Tod, zu finden im arabischen Internet, ist die Grenze zur Geschmacklosigkeit weit überschritten.

Was kann man jetzt konkret und sinnvoll tun?

Es gibt eine Spendenkampagne, mit der sowohl Marwas Hinterbliebene als auch die kritische Begleitung der juristischen Aufarbeitung des Mordes unterstützt werden soll.

Auf der website www.wobleibtmerkel.de werden bis zum 17.07. Unterschriften gesammelt, um Frau Merkel zu einer persönlichen Stellungnahme aufzufordern.

Auf islam.de gibt es ein Kondolenzbuch, in das man sich eintragen kann. Die Einträge werden dem Ehemann der Ermordeten übermittelt.

Vor allem stehen wir Muslime und Nichtmuslime vor der Aufgabe, die Gefahr der Islamophobie bewusst zu machen. Notwendig ist z.B. eine Dokumentation islamophober Übergriffe, aber auch von Diskriminierungen im Alltag und im Berufsleben aufgrund der Zugehörigkeit zum Islam. Auch die Kopftuchverbote für Lehrerinnen in verschiedenen Bundesländern und die aggressive Debatte darüber müssen vor diesem Hintergrund noch einmal angesprochen werden.

Muslime können als Einzelpersonen, Moscheen oder Gruppen lokal vor Ort über den Islam und die Muslime aufklären mit Vorträgen, Tagen der offenen Moschee, Nachbarschaftseinladungen, kommunalen Festen usw. Sie sollten Kontakte zu lokalen Politikern, Gewerkschaften, Kirchen und sonstigen gesellschaftlichen Akteuren pflegen und sich aktiv am Leben vor Ort beteiligen. Dabei müssen sie immer wieder auf konkrete Vorfälle hinweisen und sich dafür einsetzen, dass diese wahrgenommen und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.