Aischa al-Ba'uniyya - Ein Leben getragen von Liebe und Hoffnung

Wir befinden uns in Aleppo, Syrien, zu Beginn des 16. Jahrhunderts – im 10. Jh. islamischer Zeitrechnung – im Sommer des Jahres 1516. Der vorletzte mamlukische Sultan Qansuh al-Ghawri steht gerade in intensiven Verhandlungen mit dem Osmanischen Sultan Selim I. und bereitet sich auf eine militärische Auseinandersetzung vor. Qansuh al-Ghawri ist als sehr zurückgezogen bekannt und erscheint nur selten in der Öffentlichkeit, aber es ist ihm wichtig, eine ältere Dame zu treffen: Aischa al-Baʿuniyyah. Zusammen mit einigen anderen Gelehrten erhält sie eine Audienz beim Sultan.

Worüber die beiden gesprochen haben, ist nicht bekannt – vielleicht hat er spirituellen Beistand vor dieser wichtigen Schlacht bei ihr gesucht, denn sie war eine anerkannte Shaykha des Qadiriyya-Ordens – oder sie hat aus ihren Gedichten vorgetragen, denn sie war auch eine bekannte Dichterin. Dass sie diese Audienz erhielt, verweist in jedem Fall auf ihre Bedeutung und die gesellschaftliche Stellung, die sie innehatte.

Wer war Aischa al-Baʿuniyya?

Aischa al-Baʿuniyya wurde als Dichterin, Gelehrte und Mystikerin bekannt. Sie ist eine der wenigen Frauen der islamischen Geschichte der Vormoderne, die nicht nur Gedichte geschrieben, sondern auch Bücher verfasst haben. Ihr Geburtsdatum ist nicht genau bekannt und wird auf das Jahr 860/1455 geschätzt, gestorben ist sie im Jahr 923/1517 – Allah möge ihrer Seele gnädig sein. Wir wissen von ihr durch Berichte mehrerer ihrer Zeitgenossen, darunter die Historiker Ibn Tulun von Damaskus und Ibn Hanbali von Aleppo.

Familie und Leben

Aischa wurde in eine bekannte Damaszener Gelehrtenfamilie hineingeboren: Ihr Großvater Ahmad war Freitagsprediger der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und der Umayyaden-Moschee in Damaskus, er stieg unter dem mamlukischen Sultan Barquq zum Shaikh al-Shuyukh auf, fiel aber in Ungnade, als er sich weigerte, dem Sultan Geld aus religiösen Stiftungen zu leihen. Aischas Vater Yusuf al-Baʿuni war ein Gelehrter im schafiʿitischen Recht und der oberste Qadi in Damaskus, ihr Onkel Ibrahim war Leiter einer Sufiklause (khanqah) in Damaskus und galt als einer der größten Dichter seiner Zeit. Aischa hatte fünf Brüder und alle Geschwister wurden unterwiesen in Quran, Hadith, fiqh (islamisches Recht), Dichtung sowie den Lehren und der Praxis des Sufismus. Zwischen ihrer und der Erziehung ihrer Brüder ist kein Unterschied festzustellen, und das war in vielen Gelehrtenfamilien zur damaligen Zeit üblich. Sie ist jedoch diejenige, die von den Geschwistern den größten Ruhm erreichte.

Wie sie selbst berichtet, hatte sie mit acht Jahren den Koran auswendig gelernt. Als junge Frau machte sie die Pilgerfahrt, während der sie ein starkes spirituelles Erlebnis hatte: eine Vision des Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm, die ihr weiteres Leben sehr beeinflusste. Sie hat diese Vision selbst beschrieben:

„Allah gewährte mir eine Vision des Propheten als ich mich in der ehrwürdigen Stadt Mekka aufhielt. Eine Furcht hatte mich mit Gottes Willen überkommen und so ging ich zur heiligen Moschee. Es war Freitagnacht und ich ruhte auf einem Sofa auf einer Veranda von der aus man die Kaaba und den heiligen Bezirk überblicken konnte. Da passierte es, dass einer der Männer dort ein Maulid [ein Lobgedicht] über den Gesandten Gottes rezitierte und die Stimmen erhoben sich im Preis des Propheten. Dann, ich konnte meinen Augen kaum es war so, als ob ich in einer Gruppe von Frauen stand. Jemand sagte: „Küsse den Propheten!“ und eine Furcht überkam mich, die mich ohnmächtig werden ließ, bis der Prophet vor mir vorüber ging. Da bat ich ihn um seine Fürsprache und mit stammelnder Zunge sagte ich zu Gottes Gesandten: ‚O mein Meister, Ich bitte ich um deine Fürsprache!‘ Dann hörte ich ihn ruhig und bedacht sagen: ‚Ich bin der Fürsprecher am Tage des Gerichts!‘“
(Al-Mawrid al-Ahna fi l-Mawlid al-Asna)

Diese Erfahrung mag ein Grund dafür sein, dass sie sich besonders mit Gedichten über den Propheten hervorgetan hat, und dass trotz der persönlichen Rückschläge, die sie in ihrem Leben erleben musste, ihre Gedichte immer von einem optimistischen Ton getragen wurden, nämlich der Überzeugung, dass für diejenigen, die Gott und seinen Gesandten lieben, alles gut werden wird.

Sie heiratete Ahmad ibn Muhammad Ibn Naqib al-Ashraf (gest. 909/1503), der ebenfalls aus einer sehr angesehenen Damaszener Familie stammte, und die beiden hatten mindestens zwei Kinder, Abd al-Wahhab und Barakah.

Aus ihrem Leben wird in den Berichten eine Episode berichtet, die zeigt, dass sie nicht nur Gelehrte und Mystikerin, sondern auch eine sehr lebenstüchtige und zupackende Frau war, die es verstand, ihre Verbindungen zu nutzen: Als sie schon auf die 60 zuging und bereits 10 Jahre verwitwet war, reiste sie mit ihrem Sohn Abd al-Wahhab, der damals etwa Mitte 20 war, von Damaskus nach Kairo. Man vermutet, dass sie diese Reise machte, um ihrem Sohn einen Job in der mamlukischen Verwaltung zu besorgen. Ihre Brüder waren schon alle gestorben, und sie musste die Dinge selbst in die Hand nehmen. Auf dem Weg nach Kairo wurden sie überfallen und dabei verlor Aischa alle ihre Schriften. In Kairo angekommen, suchte sie die Unterstützung eines Familienfreundes, der Ministers des Sultans war, Mahmud ibn Muhammad ibn Aǧa. Ibn Aǧa kam ursprünglich aus Aleppo und kannte wahrscheinlich ihren Bruder Muhammad, der dort eine Zeit lang der schafiʿitische Qāḍī war. Ibn Aǧa zeigte sich sehr großzügig, nahm sie in sein Haus auf und beschäftige ihren Sohn in seiner Kanzlei. Ihr Plan war also aufgegangen, und zum Dank schrieb sie mehrere Preisgedichte über Ibn Aǧa. Sie bekam einen oder mehrere Räume neben der Frau von Ibn Aǧā, Sitt al-Halab. Durch den Kontakt mit ihr erhielt sie Zugang zu den vornehmen Kreisen von Kairo, denn Sitt al-Halab war mit der Frau des Sultans befreundet. Trotz ihrer nun angenehmen Situation und ihres bereits fortgeschrittenen Alters – sie geht auf die sechzig zu – beendete sie nicht ihre Suche nach Wissen und studierte in ihrer Zeit in Kairo das islamische Recht mit verschiedenen Gelehrten und lernte zahlreiche Gelehrte und Dichter kennen, von denen sie mit einigen in einen Austausch trat. Ein Briefwechsel mit Abd ar-Rahman al-Abbasi, in dem beide Gedichte austauschten, ist erhalten.

Sie blieb drei Jahre in Kairo und ging dann mit ihrem Sohn, der Ibn Aǧa begleitete, nach Aleppo, wo sich der mamlukische Sultan auf den Krieg mit den Osmanen vorbereitete. Dort kam es zu der erwähnten Audienz. Danach ging sie nach Damaskus zurück, wo sie im Jahr darauf, 1517, starb.

Denken und Werk

Aischa al-Baʿuniyya ist als Gelehrte und Schaykha eines Sufi-Ordens in der islamischen Geschichte keine Ausnahme, das Besondere ist jedoch, dass sie so viel geschrieben hat. Sie hat über 12 Werke verfasst, teilweise Gedichte, teilweise Prosa, die von ihren Zeitgenossen sehr gelobt wurden. Die meisten ihrer Werke sind verloren gegangen, erhalten geblieben sind jedoch mehrere Gedichtsammlungen und ein Handbuch über den Weg des Tasauwuf unter dem Titel al-Muntaḫab fī uṣūl ar-rutab fī ʿilm at-taṣawwuf („Auswahl der Prinzipien der Stationen in der Wissenschaft des Sufismus.“) Diese Schrift und eine Gedichtsammlung wurden von dem Islamwissenschaftler Emil Homerin in Ägypten aufgefunden, ediert und ins Englische übersetzt.

Von den Schriften, die erhalten geblieben sind, und von dem, was sie selbst über ihre Werke geschrieben hat, wissen wir, dass sie zwei vorherrschende Themen hatte: im Tasauwuf war es vor allem die Gottesliebe. Die Liebe beschreibt sie als ein endloses Meer ohne Ufer, viele Personen und Religionen der Vergangenheit haben davon einen Geschmack bekommen, aber niemand so viel wie der am meisten Gesegnete, der Prophet Muhammad und seine spirituellen Nachkommen, die auliyā‘. Gott transformiert die Menschen, die Er liebt, vergibt seine Liebe in einem Akt unverdienter Gnade, und diese Liebe zieht die Suchenden immer näher zu Gott, bis sie ihr eigenes Selbst hinter sich lassen.

Das zweite große Thema ist das Lob des Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm. Aischa hat eine Reihe von Maulids verfasst, d.h. Lob- und Preisgedichte auf den Propheten, zum Teil in Gedichtform und zum Teil in Prosa. Der Titel eines bekannten Maulids lautet: Al-Maurid al-Ahna fi l-maulid al-Asna („Die heilsamste Quelle über die Geburt des Strahlendsten“). Zwei Gedichtsammlungen haben überlebt: Diwan Aischa al-Baʿuniyya, „Die gesammelten Gedichte der Aischa al-Baʿuniyya“, die sie in Kairo verfasst hat. Die Sammlung enthält sechs lange Gedichte über den Propheten, in einem von diesem hat sie al-Busiris Burda, das bekannteste Lobgedicht auf den Propheten, verarbeitet. Enthalten ist in dieser Sammlung auch ihr berühmtestes Gedicht al-Fatḥ al-mubīn fī madḥ al-amīn (Die klare Inspiration im Preis des Vertrauenswürdigen). Es besteht aus 130 Versen und sie verwendet darin eine sehr komplexe Form der Dichtung, die in der Mamluken-Zeit beliebt war, die badīʿiyyah. Dabei verbindet sie immer eine Eigenschaft des Propheten mit einem bestimmten rhetorischen Mittel.

Die zweite Gedichtsammlung, die erhalten geblieben ist, ist Fayḍ al-faḍl wa-ġamʿ aš-šaml („Ausströmung der Gnade und die Sammlung der Vereinigung“). Die Sammlung enthält über 370 Gedichte, die aus ihrer gesamten Zeit stammen, die sie auf dem Sufi-Weg verbracht hat. Viele dieser Gedichte beschreibt sie selbst als von Gott inspiriert.

al-Muntaḫab fī uṣūl ar-rutab fī ʿilm at-taṣawwuf  - Prinzipien des Sufismus

In ihrem Handbuch vergleicht sie den Sufismus mit einem Baum, der viele Zweige hat, aber vier grundsätzliche Wurzeln oder Prinzipien: Reue/Umkehr (tauba), Aufrichtigkeit (ikhlas), Gottesgedenken (dhikr) und Liebe (mahabba). Diese vier Prinzipien behandelt sie in vier Kapiteln immer nach dem gleichen Muster: Sie führt Koranverse dazu an, die Kommentare früherer Sufis zu diesen Versen, Hadithe, Aussprüche der Salaf (der ersten Generationen von Muslimen) und schließlich Sprichwörter, Lehren und Geschichten von späteren Sufis. Zum Schluss fügt sie oft ihre eigenen Beobachtungen sowie einige ihrer Verse hinzu. Ihr Handbuch unterscheidet sich in Themen und Stil kaum von ähnlichen Handbüchern ihrer männlichen Kollegen, wie Emil Homerin feststellt, der ihre Schriften untersucht und mit denen anderer Sufis verglichen hat. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, dass in ihren Gedichten eine weibliche Liebende Gottes und des Propheten spricht, was für die Frauen unter den Lesern eine größere Identifikation bedeutet. Weiterhin fällt auf, dass sie besonders sorgfältig in der Zitation ihrer Quellen ist und diese sehr genau angibt.

Am Ende des Kapitels zur Reue bringt Aischa ihre Reflexionen zum Hadith Qudsi „Ich bin bei Meinem Diener wie er von Mir denkt […]“ in eine poetische Form. Hier die (unzulängliche) deutsche Übersetzung:

Schöne Gedanken übermittelten mir
Eine Nachricht, kein leeres Gerede.
Dass barmherzig Du bist und gütig
Freigiebig, umfassend im Vergeben
Erweise meine Gedanken, mein Herr, als wahr
Stille mit Großzügigkeit meinen Durst
Lösche alles, was von meinen Sünden Du bestimmt
Denn dein Versprechen der Erfüllung
bestätigten die überlieferten Worte des Wahrhaftigen
Dass Deinem Diener Du begegnest, wie er von Dir denkt
So ist Derjenige für ihn da, nach Dem er strebt.

Literatur:
Emil Homerin: ʿĀʾishah al-Bāʿūniyyah, The Principles of Sufism, 2014.
Ders.: Living Love. The Mystical Writings of ʿĀʾishah al-Bāʿūniyyah, 2003.
„Ambiguity, optimism, and grace: An Interview with Th. Emil Homerin on translating ʿA’ishah al-Bāʿūniyyah“.