Hadschar - von der Sklavin zur Matriarchin

Die Frau, die von Allah nicht verlassen wurde
Die Zeit der Hadsch steht bevor und der Umstand, dass in diesem Jahr die Teilnahme an der Hadsch für die meisten von uns nicht möglich ist, sollte uns ermutigen, uns umso mehr in unseren Gedanken und unseren Herzen mit der Hadsch zu beschäftigen. Dazu gehört die Erinnerung an Hadschar, Friede sei mit ihr.

Von Aiman titi - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14871485
Pilger beim Lauf zwischen Safa und Marwa (2011) Foto

Die Riten der Hadsch wurden bekanntermaßen nicht vom Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm, gestiftet, sondern gehen auf eine ältere Tradition zurück. Diese wurden etabliert von einem Patriarchen, Ibrahim (Friede sei mit ihm), und einer Matriarchin, Hadschar (Friede sei mit ihr).

Warum Matriarchin? Ist Hadschar nicht die Sklavin,[1] die Zweitfrau, die Verlassene?

Ma·t·ri·ar·chin
Substantiv, feminin [die]
ältestes weibliches Familienmitglied oder Mitglied eines Familienverbandes, das als Familienoberhaupt die größte Autorität besitzt

Die meisten Muslime wissen, dass ein Ritus der Hadsch (und der ʿUmra) auf Hadschar zurückgeht und kennen die Geschichte der Quelle Zamzam. Doch ihre Bedeutung für Mekka und den Islam ist noch größer.

Erinnern wir uns:

Ibrahim bringt Hadschar mit ihrem Sohn Ismaʿil, den sie noch stillt, in die Wüste und lässt sie dort zurück. Es gibt zwei Versionen dieser Geschichte, eine steht in der Bibel und eine in einem Hadith des Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), der von Bukhari überliefert wird.

Für die Autoren der Bibel ist die Geschichte Hadschars, der ägyptischen Sklavin, nicht von großem Interesse, da das erwählte Volk der Israeliten nicht von ihrem Sohn Ismaʿil, sondern von Saras Sohn Isaak abstammen wird. Ihre Geschichte ist in Genesis daher schnell erzählt: In der Wüste von Abraham alleine gelassen, irrt sie eine Weile umher und „als das Wasser im Schlauch zu Ende war, warf sie das Kind unter einen Strauch, ging weg und setzte sich in der Nähe hin, etwa einen Bogenschuss weit entfernt; denn sie sagte: „Ich kann nicht mit ansehen, wie das Kind stirbt.“ Sie saß in der Nähe und weinte laut. (Genesis 21:16f) Daraufhin schickt Gott einen Engel, der ihr Mut zuspricht: „Steh auf, nimm den Knaben und halt ihn fest an deiner Hand; denn zu einem großen Volk will ich ihn machen. Gott öffnete ihr die Augen und sie erblickte einen Brunnen. Sie ging hin, füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben zu trinken.“ (Genesis 21:19f)

Der Bericht der gleichen Begebenheit durch den Propheten Muhammad weist einige signifikante Unterschiede auf (Bukhari 60:44). Nicht nur die Geschichte selbst, sondern auch wie der Prophet sie kommentiert, ist dabei bedeutsam:

„Ibrahim brachte Hadschar und ihren Sohn Ismaʿil, den sie noch stillte, zu einem Platz in der Nähe der [späteren] Kaaba, unter einen Baum am Ort von Zamzam […]. Zu dieser Zeit lebte niemand in Mekka, noch gab es Wasser. Er ließ sie sich dort hinsetzen und legte einen Lederbeutel mit Datteln und einen Wasserschlauch neben sie und machte sich auf den Heimweg. Ismaʿils Mutter folgte ihm und sagte: „O Ibrahim! Wohin gehst du und lässt uns in diesem Tal, wo es niemanden und nichts gibt?“ Sie wiederholte dies viele Male, aber er schaute nicht zurück. Dann fragte sie ihn: „Hat Allah dir dies befohlen?“ Er sagte: „Ja.“ Sie sagte: „Dann wird Er uns nicht im Stich lassen!“ und kehrte um, während Ibrahim weiterzog.

Hadschar will verstehen, sie fragt nach und als sie keine Antwort bekommt, ahnt sie, dass Ibrahim, der Prophet, eine solche schwerwiegende Entscheidung nicht von sich aus getroffen hat. Als er ihr bestätigt, dass es Allahs Befehl ist, akzeptiert sie ihn sofort – und nicht nur das: Sie vertraut ohne Zögern darauf, dass Allah sie nicht verlassen wird. In einer anderen Variante des Hadiths sagt Ibrahim: „Ich lasse dich in Allahs Schutz“, woraufhin sie antwortet: „Ich bin damit zufrieden, mit Allah zu sein.“ (Bukhari, 60/44)

Der Prophet berichtet weiter:

„Ismaʿils Mutter stillte ihren Sohn und trank von dem Wasser. Als das Wasser im Schlauch aufgebraucht war, wurde sie durstig und auch ihr Kind bekam Durst. Sie betrachtete ihn, wie er sich hin und her wand. Sie ließ ihn liegen, denn sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen und sah, dass der Hügel Safa der nächstgelegene Hügel in der Gegend war. Sie kletterte auf ihn und wandte ihr Gesicht zum Tal um jemanden zu entdecken, aber sie sah niemanden. So kletterte sie von Safa herab und als sie das Tal erreiche, raffte sie ihre Kleidung und lief wie jemand in großen Schwierigkeiten, bis sie das Tal durchquert und den Hügel Marwa erreicht hatte. Dort stand sie und schaute umher in der Erwartung jemanden zu sehen, aber sie konnte niemanden sehen.“

Im Unterschied zur biblischen Darstellung bleibt Hadschar nicht sitzen und beginnt zu weinen, sondern wird aktiv und sucht nach einer Lösung. Sie weiß, dass Allah Hilfe senden wird, sie weiß nur noch nicht wie und erwartet, dass er ihr andere Menschen schickt. Sie erwartet kein Wunder oder einen Engel, deshalb läuft sie auf die Hügel, um nach Menschen Ausschau zu halten. Die Situation verlangt ihr das Äußerste ab und die Sorge um ihr Kind überwältigt sie fast, aber sie gibt nicht auf.

„Sie wiederholte das [Hin- und Herlaufen zwischen Safa und Marwa] sieben Mal.“ Der Prophet, Friede sei mit ihm, sagte: „Das ist der Ursprung der Tradition des Laufs der Menschen zwischen ihnen [d.h. Safa und Marwa].

Der Prophet betont hier die Verbindung zwischen Hadschars Erfahrung und dem Ritus der Hadsch. Es ist eine Situation der Prüfung und des Gottvertrauens einer Mutter, die Allah als Ursprung für den Ritus des Laufs zwischen Safa und Marwa ausgewählt hat, den jeder Pilger und jede Pilgerin bei der großen und der kleinen Pilgerfahrt vollzieht.

Prüfung und Standhaftigkeit sind zentrale Aspekte der Riten der Hadsch und des anschließenden Opferfestes: Das Steinigen der Säulen geht auf Ibrahims Steinigung des Teufels zurück, der ihn davon abbringen wollte, dem Befehl Allahs zu folgen und seinen Sohn zu opfern. Die Opferung eines Tieres erinnert daran, dass Ibrahim, Friede sei mit ihm, diese Prüfung bestand und Allah ihm gegenüber barmherzig war. Allah hat einen Mann, Ibrahim, und eine Frau, Hadschar, einen Vater und eine Mutter, ausgewählt, diese Prüfungen zu bestehen und lässt die Muslime diese bis heute erinnern und rituell nachvollziehen. Und während die Steinigung der Säulen und die Opferung eines Tieres nur einmal im Jahr während, bzw. nach der Hadsch vollzogen werden kann, ist der Lauf zwischen Safa und Marwa auch Teil der kleinen Pilgerfahrt, der ʿUmrah, die das ganze Jahr hindurch stattfindet.

So wie Allah Sich Ibrahim gegenüber barmherzig erweist und seinen Sohn durch ein Opfertier auslöst, erbarmt Er sich hier Hadschar, wie der Prophet weiter berichtet:

„Als sie Marwa [das letzte Mal] erreichte, hörte sie eine Stimme […] und sagte: „Du hast mich deine Stimme hören lassen, kannst du mir helfen?“ Und siehe da: Sie sah einen Engel am Ort von Zamzam, der mit seiner Ferse in die Erde grub, bis das Wasser aus dieser Stelle floss. Sie begann, eine Art Becken um das Wasser herum zu machen, indem sie ihre Hände so bewegte [der Prophet macht die Bewegung vor].“

Der Prophet ahmt hier ihre Handlung nach und fügt einen Kommentar hinzu, aus dem die Liebe zu seiner Ahnin und die Bewunderung ihrer Fähigkeiten und ihrer Geistesgegenwart spricht: „Allah möge der Mutter Ismaʿils barmherzig sein: Hätte sie [das Wasser von] Zamzam einfach laufen lassen […] wäre keine befestigte Quelle daraus geworden.“

Hadschar und Isma’il waren gerettet: „Dann trank sie und stillte ihr Kind. Der Engel sagte zu ihr: ‚Habe keine Angst, vernachlässigt zu werden, denn dies ist das Haus Gottes, das erbaut werden wird von diesem Kind und seinem Vater und Allah lässt seine Leute nicht im Stich.‘“

Sie lebten noch eine Weile alleine an diesem Ort, der Mekka werden sollte, bis einige Araber vorbeikamen. Sie stellte fest, dass es dort Wasser gab, und fragten Hadschar: „Erlaubst du uns bei dir zu bleiben?“ Sie antwortete: „Ja. Aber ihr werdet nicht das Recht haben, das Wasser zu besitzen.“ Sie willigten ein.“ Und so behielt Hadschar als Matriarchin die Kontrolle über die Quelle, die Allah ihr zu ihrer Rettung geschenkt hatte.

Der Prophet fügt noch eine Information über Hadschar und ihren Charakter hinzu: „Ismaʿils Mutter war erfreut über diese Situation, da sie die Gesellschaft der Menschen liebte.“ So wurde Hadschar, die Menschenfreundin, die Standhafte, die Gottvertrauende zur Gründerin von Mekka.

Hadschar ist eine Frau, die durch ihr Gottvertrauen und ihre Einsatzbereitschaft eine Form des Gottesdienstes etablierte, die wir bis heute nachahmen; der Allah einen Engel und ein Wunder schickte, und ihr eine Nachkommenschaft schenkte, aus der schließlich das Licht dieser Welt, der Prophet Muhammad, hervorgehen sollte. Aus der Sklavin, der Zurückgelassenen, der alleinerziehenden Mutter wurde die Gründerin der Geburtsstadt des Propheten. Ihre Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie Allah die Situation eines Menschen ändern kann und wie großzügig Er Gottvertrauen und Opferbereitschaft belohnt.

Später – so berichtet der Hadith weiter – kehrte Ibrahim zurück, um nach seiner zurückgelassenen Familie zu sehen, und baute mit seinem Sohn die Kaaba auf. Allah wollte, dass die Grundlage dafür eine Frau gelegt hat.



[1] In der Bibel ist Hadschar eine ägyptische Sklavin, in der islamischen Tradition wird sie zumeist als die Tochter des ägyptischen Königs angesehen. Doch auch als Prinzessin ist sie unfrei, da sie vom König an Sara verschenkt wird.