Mit Kopftuch – zu Recht - außen vor?

Der Streit um eine kleine Broschüre gegen die Diskriminierung von muslimischen Frauen mit Kopftuch und ihre Ablehnung durch erklärte Frauenrechtlerinnen

von Nina Mühe

Als muslimische Frau, die sich dazu entschieden hat, ein Kopftuch zu tragen, erlebe ich die Benachteiligungen und vehementen Schwierigkeiten, die besonders diesem Teil der muslimischen Gemeinschaft auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen entgegentreten, immer stärker sozusagen am eigenen Leib.
Als freie Wissenschaftlerin bin ich ganz froh, meine wichtigsten Aufträge derzeit aus dem europäischen Ausland zu beziehen – in Großbritannien scheint es an der Akzeptanz der fachlichen Leistung nicht viel zu ändern, welches Bekenntnis man hat und welche Kleidung man trägt.

Diese persönliche Sichtweise vorweg, um meine eigene Position auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zu erläutern. Es sind aber nicht in erster Linie meine eigenen persönlichen Erfahrungen und die der anderen Betroffenen, die mir bekannt sind, sondern die immer stärker werdende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, nicht zuletzt meine eigenen Erfahrungen innerhalb meiner Forschung zu Muslimen in Berlin, die ich derzeit für das Open Society Institute/ EUMAP durchführe, sowie Befragungen durch Antidiskriminierungsprojekte wie den ADNB des TBB Berlin, die mich alarmiert und sehr stark für die sich augenscheinlich verschlimmernde Diskriminierungssituation von Muslimen im Allgemeinen und muslimischer Frauen mit Kopftuch im Besonderen sensibilisiert haben.

Die Vorgeschichte und Entstehung einer Broschüre

Dass sich die praxisrelevanten Auswirkungen des Berliner Neutralitätsgesetzes für kopftuchtragende Frauen nicht allein auf den Bereich des öffentlichen Dienstes beschränken, ist schon lange auch unter den zuständigen Politikerinnen und Politikern kein Geheimnis mehr, weshalb unter anderem Dr. Sabine Kroker-Stille, die Leiterin der vormaligen Antidiskriminierungsstelle des Berliner Integrationsbeauftragten selbst zu verschiedenen Moscheen und muslimischen Organisationen ging, um vor Ort mit betroffenen Frauen über deren Erfahrungen zu sprechen. In diesen Gesprächen ((Die Ergebnisse sind teilweise in der aktuellen Broschüre „Mit Kopftuch außen vor?“ des Berliner Senats wiedergegeben.)) traf sie immer wieder auf Diskriminierungserfahrungen u.a. auf dem Arbeitsmarkt, gegen die es zu dieser Zeit aber noch kaum eine rechtliche Handhabe gab, weshalb sie nur vermittelnde Gespräche mit den jeweiligen Arbeitgebern führten konnte.
Mit Einführung des von vielen Antidiskriminierungsstellen lang ersehnten AGG ((Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz)) in Deutschland wurde dann endlich auch eine eigene Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung beim Berliner Senat geschaffen, die all diese gesellschaftlichen Probleme mit rechtlicher Handhabe im Hintergrund angehen konnte. Besagte Broschüre, die erklärtermaßen nicht die Gründe für oder gegen das Tragen eines Kopftuches darlegen, sondern einen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen und zum Empowerment der betroffenen Frauen leisten will ((siehe Mit Kopftuch außen vor?; S. 3.)), nahm ich daher mit Freude zur Kenntnis, da die Problematik darin sehr differenziert dargelegt wird ((So wird beispielweise auch – auf S. 15 - nicht verschwiegen, dass es durchaus Fälle gibt, in denen ein unterschiedlich gearteter Druck auf muslimische Frauen wirkt, ein Kopftuch zu tragen.)) und wissenschaftliche Studien, Beispiele von Betroffenen sowie Aussagen von Unternehmen, Lehrern und Projekten für muslimische Jugendliche auf Arbeitssuche zu lesen sind. Besonders die am Schluss aufgeführten Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven, die auch eigene Politik kritisch beleuchten wollen, ließen mich darauf hoffen, dass diese gesellschaftliche Problematik, deren Auswirkungen nicht nur die muslimischen Frauen betreffen, endlich offen angegangen wird. Allerdings hätte ich an diesem Punkt ein breite politische Kampagne für angebrachter gehalten als eine kleine Broschüre, die in ihrer Verbreitung doch eingeschränkt ist.

Umso mehr überraschten und erstaunten mich die Reaktionen verschiedener erklärter Frauenrechtlerinnen, wie Seyran Ates, Serap Cileli oder den Frauen von Terre des Femmes.
Denn sie kritisierten keineswegs den beschränkten Wirkungsgrad der Broschüre, sondern vielmehr ihr Anliegen an sich – gegen die Diskriminierung muslimischer kopftuchtragender Frauen vorzugehen. Dass den Genannten die muslimische Praxis, sich die Haare zu bedecken, nicht gefällt, ist allgemein bekannt und jedem belassen. Dass sie sich aber – wider erklärtes Wissen, dass es Diskriminierung gegen besagte Frauen gibt – gegen eine Aufklärungskampagne der Senatsverwaltung für Integration stellen, stimmte mich sehr nachdenklich und ist meines Erachtens nicht mit ihren Zielen der Gleichbehandlung aller Frauen und v.a. deren Teilhabe an allen Bereichen der Gesellschaft zu vereinbaren. Der Gleichheitsgrundsatz ist nach meiner Auffassung nicht gewahrt, wenn man bestimmte Personengruppen, denen man von außen eine bestimmte politische Haltung zuschreibt, die sie gar nicht selbst erklärt haben, von dieser Gleichbehandlung ausschließt. Und so befürworten diese Frauenrechtlerinnen nicht nur – wie es schon Alice Schwarzer ((In einem F.A.Z.- Interview vom 4. Juli 2006 trat Frau Schwarzer nicht nur für ein breites Kopftuchverbot bei Lehrerinnen und Schülerinnen ein, sondern verglich das Kopftuch sogar mit dem Judenstern.))tat – den Ausschluss dieser Frauen von Berufen im öffentlichen Dienst, wie er etwa in Berlin gehandhabt wird, sondern auch noch jegliche Ungleichbehandlung auf dem privaten Arbeitsmarkt, die selbst von Seiten der Berliner Politik schon immer negativ bewertet wurde, oder befinden es zumindest nicht für wert, dagegen zu sprechen.

Im Folgenden möchte ich mich mit einigen Argumenten dieser Kritikerinnen auseinandersetzen:

Wissenschaftlichkeit der Aussagen

Das Erste, was Frau Ates der Senatsbroschüre vorwirft, ist Unwissenschaftlichkeit.

Wenn die Verantwortlichen schon so eine Broschüre herausgeben, dann sollten darin auch fundierte Aussagen stehen. Ich fordere schon seit langem, dass es wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema geben muss. Wir brauchen Zahlen statt Behauptungen ((Interview mit Seyran Ates in Jungle World am 20. September 2008)).

Auch Terre des Femmes wundern sich in einem Offenen Brief an den Senat,

dass die in der Broschüre genannten Empfehlungen aufgrund von Gesprächen mit lediglich 30 Muslimen, einer Leiterin einer Erziehungsschule und einem Vertreter einer islamischen Religionsgemeinschaft zustande kamen. Wie Sie selbst schreiben, sind die Einstellungen der befragten Personen keineswegs repräsentativ ((Offener Brief von Terre des Femmes an die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Dr. Heidi Knake-Werner am 18.09.2008)).

Es mag Frau Ates entgangen sein, dass es durchaus schon einige wissenschaftliche Studien zu muslimischen Frauen mit Kopftuch gibt. Der Broschüre selbst lagen durchaus nicht nur die erwähnten Gespräche mit 30 Betroffenen zugrunde, sondern ebenso die Studie Das Kopftuch – die Entschleierung eines Symbols, die von Frank Jessen und Dr. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff im Jahre 2006 für die Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt wurde, und in der 315 muslimische Frauen mit Kopftuch befragt wurden. Des Weiteren nennt die Broschüre neben jahrelanger Praxiserfahrung der Berliner Antidiskriminierungsstelle eine 2002 von der Ausländerbeauftragten in Brandenburg durchgeführte Untersuchung ((Harald Klier, Antidiskriminierungsstelle im Büro des Ausländerbeauftragten des Landes Brandenburg: Diskriminierung von muslimischen Frauen, Ergebnisse einer Befragung in Brandenburg, Potsdam 2002.)) sowie eine Befragung muslimischer Frauen im Rahmen einer Magisterarbeit von Canan Korucu ((Canan Korucu: Selbst- und Leibilder junger Kopftuch tragender Musliminnen türkischer Herkunft in Berlin - Eine qualitative Studie anhand von Leitfadeninterviews, Magisterarbeit Berlin 2004.)) als ihre Grundlagen.

Bisherige Forschung

Dies sind durchaus nicht die einzigen Studien, die in den letzten Jahren zur Kopftuchfrage und den Einstellungen und Lebenssituationen muslimischer Frauen gemacht wurden ((Beispielhaft zu nennen wären des Weiteren die qualitativen Studien „Die politisierte Religion – Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich“ von Dr. Schirin Amir-Moazami oder „Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen von Yasemin Karakasoglu-Aydin.)). Die Ergebnisse der meist qualitativen Forschungen haben eine wissenschaftliche Aussagekraft, die nicht zu ignorieren ist. So nennt etwa Amir-Moazami in ihrer Studie "Politisierte Religion - Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich" das Ergebnis, dass die Mehrheit ihrer Interviewpartnerinnen in beiden Ländern betonte, sich ohne äußeren Zwang bedeckt zu haben, einen tiefgreifenden - wenn auch nicht neuen Befund. Denn er stelle eines der Kernargumente des öffentlichen Diskurses in Frage, nämlich dass die Frauen gezwungen oder zumindest manipuliert worden seien, sich zu bedecken ((Amir-Moazami: Politisierte Religion - Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich. Bielefeld transcript 2004. S.170.)). Aber auch quantitative, repräsentative Forschungsergebnisse sind durchaus schon vorhanden, so etwa in der vielbesprochenen Studie "Muslime in Deutschland", die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben worden war und im Dezember 2007 publiziert wurde.
Die Autoren der Studie, Dr. Katrin Brettfeld und Prof. Dr. Peter Wetzels, fanden etwa heraus, dass es keineswegs die Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen sei, die muslimische Frauen dazu bewögen ein Kopftuch zu tragen, da die Bejahung des hohen Stellenwertes dieses Kleidungsstückes in fast allen Altersgruppen bei den Frauen sehr viel stärker ausgefallen sei als bei den Männern. Nur in der Seniorengeneration ließe sich noch ein gewisses patriarchales Gefälle erkennen, da hier mehr Männer als Frauen angaben, dass ihnen das Kopftuch – von einem weiblichen Familienmitglied getragen – wichtig sei ((Brettfeld/ Wetzels: Muslime in Deutschland, Universität Hamburg, Fakultät für Rechtswissenschaft, Juli 2007, S. 135-137)) . Die in der Senatsbroschüre erwähnte Studie von Wilamowitz-Moellendorff fand zudem heraus, dass 79 Prozent der befragten Kopftuchträgerinnen möglichst frei und unabhängig sein, 60 Prozent in einer fortschrittlichen Gesellschaft leben wollten und 94 Prozent es für wichtig hielten, dass auch die verheiratete Frau ihre beruflichen Wünsche erfüllen kann ((aus: Interview mit Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in der Netzeitung vom 28. September 2006.)) .

Es gibt sicherlich noch ausreichend Bedarf an weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem Thema, wie etwa auch einem verstärkten Fokus auf der wahrgenommenen Diskriminierungssituation. Das Argument, es gebe nicht genug wissenschaftliche Erkenntnisse, um von offizieller Stelle die Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch anzuprangern und dagegen vorzugehen, ist hingegen angesichts der genannten Studien nicht nachvollziehbar. Es verwundert umso mehr, da im Folgenden sowohl Frau Ates als auch Terre des Femmes zur Untermauerung ihrer eigenen Position lediglich persönliche Erlebnisse sowie die – sicherlich nicht zu unterschätzenden – Erfahrungen in der Beratungsarbeit heranziehen, selbst jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse aber schuldig bleiben.
Neben wissenschaftlichen Studien und den eigenen Erfahrungen des Antidiskriminierungsbüros mit betroffenen Frauen beruft sich die Senatsbroschüre zudem auf Gespräche mit Beratungsprojekten, die mit jungen Migrantinnen und Migranten arbeiten und besonders im Bereich Arbeitssuche sehr große Schwierigkeiten für die jungen Frauen mit Kopftuch – ungeachtet deren fachlicher Qualifikation – konstatieren, worin sie überdies durch die Aussagen der Arbeitsvermittler in den Behörden bestätigt werden.

Das Argument also, das Ausmaß der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt von Frauen, die ein Kopftuch tragen, sei nicht ausreichend nachgewiesen, um sich dagegen auszusprechen, ist nicht stichhaltig. Noch interessanter jedoch ist die Frage, worauf dieses Argument abzielt. Da findet sich einerseits die implizite Vorstellung, Diskriminierung sei erst dann problematisch, wenn sie einen bestimmten Prozentsatz der Bevölkerung betreffe, während wenige Betroffene zu vernachlässigen seien und kein politisches Handeln rechtfertigen würden.

Rivalität der Diskriminierungssituationen

Und andererseits wird eine Art Konkurrenzsituation zwischen Kopftuch tragenden und nicht Kopftuch tragenden muslimischen Frauen postuliert, die sich in einer Rivalität um die Schwere der Diskriminierung wiederfinden. So rechtfertigt scheinbar in der folgenden Argumentation von Frau Ates die Tatsache, dass einige Musliminnen von ihren Glaubensgeschwistern – auch solchen mit Kopftuch – nicht genügend respektiert oder sogar moralisch abgewertet würden, eine staatliche wie privatwirtschaftliche Benachteiligung aller Kopftuchträgerinnen auf dem Arbeitsmarkt.

Ganz sicher gibt es Frauen, die aufgrund ihres Kopftuchs Diskriminierung erfahren. Nur muss man eben auch sehen, was das Kopftuch ansonsten noch bewirkt. Ich höre immer wieder, dass Frauen ohne Kopftuch von Frauen mit Kochtuch diskriminiert werden. Gerade erst hat mir eine Frau erzählt, dass in ihrem Deutschkurs vier Frauen mit Kopftuch sitzen und sie, die kein Kopftuch trägt, permanent geschnitten wird. Sie wird nicht mal gegrüßt. Dieses Verhalten speist sich aus dem Gefühl der Kopftuchträgerinnen, dass sie die besseren Musliminnen seien. Auch ich muss mich immer wieder darüber streiten, dass ich keine echte und gute Muslimin sei, weil ich kein Kopftuch trage.

Hier findet sich einerseits implizit das Argument „wer diskriminiert, darf/sollte auch diskriminiert werden“ und andererseits die meiner Ansicht nach unzulässige feindliche Gegenüberstellung von Frauen mit und ohne Kopftuch, die so zumindest in meinem Umfeld und auch in betreffenden empirischen Erhebungen nicht wiederzufinden ist. So fand etwa Wilamowitz-Moellendorff bei seiner Befragung 315 muslimischer Kopftuchträgerinnen heraus, dass zwar 97% von diesen das Tragen des Tuches für eine religiöse Pflicht hielten, sehr viele von diesen sich aber auch gegen einen Kopftuchzwang aussprächen.

Zielsetzung der Broschüre

Auch die Kritik an der Einseitigkeit der Broschüre, die nicht auf die Diskriminierung von Nicht-Kopftuchträgerinnen eingehe, ist meines Erachtens ungerechtfertigt. Die Broschüre erklärt schon eingangs ihr Ziel, nämlich

auf die Situation muslimischer Frauen mit Kopftuch aufmerksam (zu) machen, über die verschiedenen Beweggründe, ein Kopftuch zu tragen (zu) informieren, einen Beitrag zum Abbau herrschender Vorurteile (zu) leisten, den Frauen Mut (zu) machen und insbesondere bestehenden Diskriminierungen entgegen (zu) wirken.

Es wird außerdem erwähnt, dass es keineswegs um einen weiteren Beitrag zur breit geführten "Kopftuchdebatte" gehe.

Die Frage von Terre des Femmes,

wie sich eine staatliche Institution wie die Berliner Senatsverwaltung für eine religiöse Auslegung einsetzen kann, die der im Grundgesetz verankerten Gleichstellung der Geschlechter diametral entgegen steht

geht also an der Zielsetzung der Broschüre, das Recht eines bestimmten Bevölkerungsanteils auf Nicht-Diskriminierung ungeachtet dessen religiöser der politischer Einstellung zu verteidigen, vorbei.
Die Pauschalisierung der – wissenschaftlich erwiesenen – Diversität innerhalb der Beweggründe für oder gegen das Kopftuchtragen zu einer generellen Ungleichstellung der Geschlechter, die sich bei allen genannten Kritikerinnen wiederfindet, wird zudem in der Regel über die Köpfe der Betroffenen hinweg vorgenommen und lässt sich weder von den genannten empirischen Erkenntnissen noch von höchstrichterlichen Beschlüssen, die eine andere Definition nahe legen, beeindrucken. So urteilt etwa das Bundesverfassungsgericht am 24. September 2003 bezüglich der Beurteilung von muslimischen Kopftüchern:

(...); die Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Es sollte aber doch gerade von den genannten Kritikerinnen zu erwarten sein, dass sie den Frauen, deren Rechte sie angeben verteidigen zu wollen, das Grundrecht auf eine eigene freie Meinung und die Möglichkeit, diese auch zu äußern, zugestehen und sie nicht durch ein von außen definiertes Urteil über ihre innersten Befindlichkeiten und Beweggründe entmündigen.

Die mögliche moralische Abwertung von nicht Kopftuch tragenden Frauen innerhalb der muslimischen Community, ist – anders als die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt – nur schwer durch Gesetze zu beeinflussen. Hier wäre etwa die Unterstützung von Kampagnen innerhalb der muslimischen Gemeinde denkbar. Der weitgehende Ausschluss vom Arbeitsmarkt hingegen, verletzt die Grundrechte und blockiert den wichtigsten sozialen Integrationsfaktor Arbeit, weshalb das direkte, konsequente und weitreichende Handeln der Politik durchaus gefordert ist. Man kann also das Eine nicht mit dem Anderen vergleichen, und der Versuch, diese beiden Phänomene gegeneinander auszuspielen, lässt doch Fragen hinsichtlich der Motivation dieser Kritikerinnen aufkommen.

Ginge es ihnen tatsächlich in erster Linie um die Gleichbehandlung muslimischer Frauen, dann sollte man doch davon ausgehen dürfen, dass alle Vertreterinnen dieser Gruppe gleichermaßen berücksichtigt würden. Die Art der Argumentation legt aber vielmehr ein politisches Interesse daran nahe, das in Deutschland geltende Recht auf Religionsfreiheit zugunsten einer Verdrängung religiöser Bekenntnisse aus dem öffentlichen Raum zu beschneiden und lediglich solche Argumente zuzulassen, welche dieses unterstützen.

Kopftuchtragen als politischer Kampf

In diesem Zusammenhang ist auch Frau Ates’ Fokussierung auf den von ihr postulierten „politischen Kampf“ der Kopftuchträgerinnen zu sehen, welcher wiederum eine gezielte Nicht-Einstellung eben dieser Frauen von einer rechtlich untersagten Diskriminierung zu einem bloßen politischen Statement des Arbeitgebers abschwächt.

Auch die gut ausgebildeten Kopftuchträgerinnen betreiben für mich einen politischen Kampf, denn sie tragen ihre Religiosität nach außen. Damit tragen sie Verantwortung für ihr persönliches Handeln. Viele türkische Unternehmer sagen, dass das Kopftuch in ihrem Betrieb nichts zu suchen hat. Das ist eine politische Aussage, und darin sehe ich keine Diskriminierung. (...) Wenn er das nicht will, ist es sein gutes Recht, er will ja auch keine Glatzen einstellen müssen.

Ates definiert nicht nur das Tragen eines Kopftuches pauschal für alle Frauen zu einem politischen Kampf, sondern rückt diesen argumentativ auch noch in die Nähe faschistischer Symbolik.

Auch Terre des Femmes

sieht im Kopftuch das Symbol einer patriarchalisch fundierten Geschlechterhierarchie, d.h. der Vormundschaft des Mannes über die Frau. Diese wird sowohl von Männern als auch von Frauen aufrechterhalten. Damit ist das Kopftuch kein religiöses Symbol

Die eigene – unbenommene – Interpretation des muslimischen Kopftuches wird also trotz der erklärten Erkenntnis,

dass es u.a. auch aus persönlicher religiös begründeter Motivation oder als modisches Accessoire getragen wird

zur Allgemeingültigen gemacht, die zudem noch so schwer wiegt, dass sie eine Forderung nach „Rückzug der Broschüre“, d.h. auch nach Beendigung der Antidiskriminierungsarbeit im Interesse muslimischer Frauen mit Kopftuch und im Sinne geltender Rechtslage begründet.

Religionsfreiheit versus demokratische Grundrechte?

Die oben genannte mögliche Motivation bezüglich einer Verdrängung religiösen Lebens aus der Öffentlichkeit spiegelt sich sehr deutlich in Frau Ates Statement:

Die demokratische Grundordnung darf nicht durch die Hintertür der Religionsfreiheit aus den Angeln gehoben werden.

Die Religionsfreiheit, ein hohes Gut unserer Verfassung, wird hier als Gefahr für die demokratische Grundordnung heraufbeschworen, was jeden freiheitlich denkenden Menschen auf den Plan rufen soll. Tatsächlich aber gefährdet eher ihre eigene Argumentation zentrale Punkte dieser demokratischen Grundordnung, wenn sie die gezielte Nichteinstellung von Menschen aufgrund ihrer äußerlich sichtbaren religiösen Zugehörigkeit als nicht diskriminierend, sondern einfach als das Recht der anderen Seite, der Arbeitgeber, definiert, während dies nach geltender Rechtslage schon immer ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung war und spätestens seit Einführung des AGG auch der genannten Ablehnung von Frauen mit Kopftuch – zumindest bei Offenmachen der Beweggründe – auch rechtliche Sanktionen nach sich zieht. Und auch die Religionsfreiheit, wie sie von unserer Verfassung verbürgt wird, ist keineswegs eine, die lediglich die persönliche, nicht öffentlich gemachte religiöse Überzeugung schützt, sondern auch den öffentlichen Ausdruck derselben, sowie ebenfalls das kollektive Recht einer Gruppe auf religiöses Leben, zusätzlich zur religiösen Freiheit des Einzelnen.

Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht (...). Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (...). Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen (...).

Trotz der Notwendigkeit, dieses Recht auf Religionsfreiheit gegen mögliche andere Interessen, wie die Neutralität des Staates oder die negative Religionsfreiheit Anderer ((Das ist die Freiheit von religiöser Beeinflussung oder religiösem Zwang.)) abzuwägen, definiert auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kopftuchfrage die Neutralität des Staates als eine Diversität unterstützende anstelle einer Religionsfreiheit, die religiöses Leben aus der Öffentlichkeit verbannt – wie das in laizistischen Staaten wie Frankreich oder auch der Türkei eher der Fall ist.

Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.

Weiter wird die Verpflichtung des Staates, sich einer Bewertung und Gewichtung religiöser Bekenntnisse zu enthalten betont:

Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (...). Auch verwehrt es der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten

Wenn man diese spezifische Art der Religionsfreiheit nun im Sinne von Frau Ates uminterpretieren wollte, dann ginge dies nicht ohne eine fundamentale Veränderung unserer derzeitigen Verfassung.

Mögliche Begründungen für eine derartige verfassungsrechtliche Umwälzung – wie etwa Frau Ates’ Behauptung, die Religiosität, die den Kindern aufgezwungen wird, bringe gesellschaftliche Probleme mit sich, sind wissenschaftlich in keiner Weise belegt. Im Gegenteil: Die Ergebnisse der aktuellen Sonderstudie "Religionsmonitor 2008 - Muslimische Religiosität in Deutschland" zu den religiösen Einstellungen von Muslimen in Deutschland zeigen deutlich, dass die Religiosität von Muslimen vielmehr zu ihrer Integration sowie zu sozialem und an Integrationszielen ausgerichtetem Engagement positiv beiträgt.

Generell lässt sich feststellen, dass bei dem weitaus größten Teil eine hohe Ausprägung der persönlichen Religiosität einhergeht mit einer großen Toleranz gegenüber anderen Religionen. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass die Religiosität als zivilgesellschaftliche Ressource auch für den Integrationsprozess noch intensiver wahrgenommen werden kann ((Dr. Martin Rieger, Leiter des Programms Geistige Orientierung)).

Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu bescheinigt in ihrer Studie einigen jungen muslimischen Kopftuchträgerinnen anstelle eines politischen Kampfes für Geschlechterhierarchie vielmehr einen „Kampf um Anerkennung differenter Identitäten in einer pluralistischen Gesellschaft“ – und damit ebenfalls ein aktives und der demokratischen Grundordnung entsprechendes Engagement für eine selbstbestimmte Integration.

Eben diese Pluralität negiert Frau Ates ebenfalls mit ihrer Aussage, der Berliner Senat nähme sich der Kopftuchträgerinnen im Rahmen einer sehr stark an den konservativen, religiösen Türken orientierten Integrationspolitik an.

Kopftuchträgerinnen passen da sehr gut rein, sie sind türkisch, sie sind Muslime, und sie sind Frauen.

Wenn auch die Mehrheit der hier lebenden Muslime ohne Frage türkische Wurzeln hat, sollte es doch auch Frau Ates nicht entgangen sein, dass die muslimische Gemeinschaft – und ebenso die Gruppe der Kopftuchträgerinnen – sehr viel heterogener ist, als sie hier darstellt. Selbst eine große Zahl der deutschen Musliminnen mit türkischem Hintergrund würden sich wohl gegen das Label „türkisch“ verwehren, da es sie außerhalb dieser deutschen Gesellschaft verortet, anstatt sie als Teil einer pluralistischen Gemeinschaft zu definieren.
Auch hat sich die Antidiskriminierungsstelle des Integrationsbeauftragten – auf deren Erfahrungen die kritisierte Broschüre fußt – natürlich über Jahre mit muslimischen Gemeinschaften unterschiedlicher nationaler Herkunft befasst und Stimmen aus diversen Organisationen und Moscheevereinen in ihre Meinungsfindung einfließen lassen.

Förderung von Parallelwelten statt Integration

Terre des Femmes hingegen sprechen der Broschüre jegliche integrative Wirkung ab:

Eine solche Positionierung von staatlicher Seite fördert nicht etwa die Integration, sondern verschärft die bereits bestehenden Parallelgesellschaften.

Eine Studie des IHF (International Helsinki Foundation for Human Rights) zur Diskriminierung von Muslimen in Europa besagt, dass in Frankreich das Kopftuchverbot die Diskriminierung muslimischer Frauen klar gefördert habe. Erfahrungsberichte und auch Forschungen wie die der Konrad-Adenauer-Stiftung legen ähnliche Schlüsse für Deutschland nahe. Dass Diskriminierung – besonders auf dem Arbeitsmarkt – aber Parallelwelten befördert und Menschen, in diesem Fall besonders Frauen, von zentralen Bereichen des öffentlichen Lebens ausschließt, ist eine Tatsache, die der gesunde Menschenverstand ebenso wie soziologische Studien nahe legen. Gerade durch den de facto Ausschluss von großen Bereichen des deutschen Arbeitsmarktes bleiben vielen muslimischen Frauen nur die Optionen des Rückzugs auf Heim und Herd, die Arbeit in einem muslimischen/ethnischen Unternehmen oder der Versuch außerhalb Deutschlands beruflich Fuß zu fassen.

Fazit

Der Integrationsbeauftragte Günther Piening und andere Berliner Politiker haben dies erkannt und verteidigen daher die Broschüre.

Würde es hingenommen, dass es für Frauen mit Kopftuch schwieriger ist, einen Arbeitsplatz zu finden, hieße das in letzter Konsequenz, so Piening, die Ziele der Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen auf den Kopf zu stellen: "Den Frauen bliebe dann nur ein Leben mit Heim und Herd und die entsprechende Abhängigkeit von den Männern. Dieses darf und kann nicht die Perspektive sein für Frauen - ob sie nun Kopftuch tragen oder nicht."

Auch wenn dies keine Bedingung für Gleichbehandlung sein kann und darf, ist es doch interessant, dass die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zu kopftuchtragenden Musliminnen festgestellt hat, dass die Einstellungen der Frauen in sehr vielen Fragen denen der deutschstämmigen Bevölkerung ähnlich sind und

(...) durchaus moderne Einstellungen zur Partnerschaft und keine großen Unterschiede zum Rest der Bevölkerung gefunden wurden.

Einer der Autoren der Studie fordert im Interview:

Ein Ergebnis der Studie ist, sie sind Teil der deutschen Gesellschaft, und als solche muss man sie auch behandeln.

Mit der Einschätzung, das Kopftuch sei kein religiöses, sondern ein politisches Symbol für Geschlechterhierarchie und Unterdrückung der Frau geben die Kritikerinnen der Broschüre eine in der öffentlichen Debatte von verschiedenen Akteuren immer wieder geäußerte Vorstellung wider, die zwar in der Vielfalt der Motivationen, ein Kopftuch zu tragen, durchaus vorkommen mag, im Rahmen der verschiedenen wissenschaftlichen Erhebungen allerdings nur ganz am Rande wiedergefunden wird. Eine Pauschalisierung dieser Ansicht und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen an die Integrationspolitik, von einer Antidiskriminierungsarbeit im Interesse von kopftuchtragenden Frauen abzusehen, ja deren Diskriminierung indirekt zu tolerieren, kann wissenschaftlich in keiner Weise begründet werden. Stattdessen scheint es mir angesichts der vielfältigen wissenschaftlichen, erfahrungsgemäßen sowie juristischen Erkenntnisse sogar politisch geboten, einem antiislamischen Rassismus, der eine nicht unerhebliche gesellschaftliche Verbreitung gefunden hat und sich u.a. in der Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch niederschlagen kann, deutliche politische Aussagen und Maßnahmen entgegenzusetzen. Um die Situation der betroffenen Frauen sowie die Integrationssituation der gesamten Gesellschaft auf Dauer zu verbessern, wären sogar noch sehr viel weitgehendere Maßnahmen und Projekte zu wünschen.

Ich möchte zum Schluss noch einmal ein Zitat von Wilamowitz-Moellendorf bemühen, der postulierte, dass sowohl die Kopftuchgesetze in Frankreich als auch die relativ entspannten Situationen in Großbritannien und Österreich für den deutschen Kontext keine geeigneten Vorbilder abgäben und Deutschland einen eigenen Weg finden müsste

und dazu gehört Toleranz, auch wenn uns manche Kleidungsstücke nicht gefallen. Damit muss man leben.