Gedanken einer muslimischen Frauengruppe zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Archiv der AG "Muslimische Frau in der Gesellschaft"

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Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung in der Frage, ob muslimische Lehrerinnen im staatlichen Schuldienst Kopftuch tragen dürfen, an die Parlamente der Länder abgegeben. Entscheidungen von solcher Tragweite müssten aus einem Verfahren hervorgehen, "das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten." In dieser Debatte wollen auch die muslimischen Frauen gehört werden.

Die DMK AG "Muslimische Frau in der Gesellschaft" kommentiert deshalb die Situation aus der Sicht der betroffenen Frauen. Die Arbeitsgruppe versteht dies als einen Beitrag im offenen Dialog, der zur Anerkennung der Vielfalt in unserer Gesellschaft und zu einem konstruktiven und friedlichen Miteinander führen soll.

Welche Chancen und Perspektiven bieten sich für unsere Gesellschaft?

Die letzten Urteilsbegründungen und zum Teil sehr emotionalen Diskussionen zum Tragen des Kopftuches machen nachdenklich.

Worum geht es eigentlich wirklich bei diesen Diskussionen?

- Wohin erziehen wir unsere Kinder, wenn wir die Auffassung vertreten, dass sie nicht in der Lage sind, mit dem unterschiedlichen Äußeren (auch religiös bedingtem) verschiedener Menschen umzugehen?

- Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft und wohin wandelt sich das Grundrecht auf Religionsfreiheit, wenn es gilt, Religiosität zu verstecken?

- Das Kopftuch: Ein islamisches "Symbol"?

Wohin erziehen wir unsere Kinder, wenn wir die Auffassung vertreten, dass sie nicht in der Lage sind, mit dem unterschiedlichen Äußeren (auch religiös bedingtem) verschiedener Menschen umzugehen?

Vieles wurde im Laufe der letzten Jahre angestoßen, um das Ideal unserer Gesellschaft, eines demokratischen, pluralistischen und konstruktiven Zusammenlebens verschiedener Menschen, Kulturen und Religionen voranzubringen. Während sich auf der einen Seite Menschen innerhalb dieser Gesellschaft für dieses Ziel einsetzen, sprechen Auffassungen, wie die der Kultusministerinnen aus Baden-Württemberg und Niedersachsen, sowie die bisherigen Urteile, ausgenommen der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Lüneburg, in erster Instanz, eine andere Sprache. Während Kinder und Jugendliche einerseits zu Selbständigkeit, demokratischem Verständnis und Toleranz erzogen werden, erklärt man sie andererseits für unfähig, mit dem religiös bedingten Tragen des Kopftuches ihrer Lehrerin umzugehen. Dabei sind es gerade die Kinder und Jugendlichen, die erfahrungsgemäß sehr gut mit der Unterschiedlichkeit von Menschen umgehen können, vorausgesetzt es wird ihnen nicht konsequent von Erwachsenen etwas anderes vorgelebt. Anstatt, dass die fachlichen und menschlichen Qualitäten einer Lehrerin im Vordergrund stehen und die Bereicherung eines gemischten Kollegiums für den schulischen Unterricht sowie die Erziehung zu einem Leben in einer pluralistischen Gesellschaft und globalisierten Welt wahrgenommen wird, wird die Ausgrenzung von Lehrerinnen aufgrund ihrer religiösen Bekleidung und zugleich das reine Bewerten des Äußeren von Menschen gelehrt.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft und wohin wandelt sich das Grundrecht auf Religionsfreiheit, wenn es gilt, Religiosität zu verstecken?

Artikel 4 des Grundgesetzes (GG) schützt die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und garantiert die Religionsausübung jedes und jeder einzelnen. Dieses Grundrecht dient sowohl zum Schutz der Ausübung einer Religion, als auch zum Schutze davor, zur Ausübung einer Religion gezwungen bzw. missioniert zu werden. Im Sinne dieses Grundrechtes verpflichtet sich die Schule zum Neutralitätsgebot, um weder eine bestimmte Religion oder Weltanschauung vorzuschreiben, noch den Schülerinnen und Schülern ihre unterschiedlichen Religionen oder Weltanschauungen abzusprechen. Vergegenwärtigt man sich die Situation im Klassenzimmer, so stimmen die Urteilsbegründungen der Oberverwaltungsgerichte in Baden-Württemberg und Lüneburg gegen das religiös bedingte Tragen des Kopftuches einer Lehrerin nicht nur nachdenklich, sondern irritieren massivst. Hier werden Pädagoginnen vom Schuldienst ausgeschlossen, weil ihre Religionszugehörigkeit erkennbar ist. Weder wird aber den Schülerinnen und Schülern durch diese Lehrerinnen verwehrt, ihre eigene Religion oder Weltanschauung auszuüben, noch wird den Schülern nahe gelegt, die Religion der Lehrerinnen anzunehmen. Wird denn ein muslimisches oder atheistisches Kind zur Christin oder zum Christen, weil eine der Lehrerinnen alltäglich ein sichtbares Kreuz an einer Kette um ihren Hals trägt? Oder wird etwa eine Jugendliche zur Muslima, weil sie ihre Lehrerin nachahmt, indem sie auch mal ein Kopftuch trägt? Wohin gerät unsere Gesellschaft, wenn es bei der Beurteilung von Lehrerinnen und Lehrern in erster Linie, um das Äußere geht, anstatt um die Inhalte des Unterrichts, den sie erteilen? Wohin wandelt sich unsere Gesellschaft, wenn das so genannte Neutralitätsgebot der Schule dazu führt, dass individuelle Rechte der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und das Recht auf freie Berufswahl bzw. -ausübung von Lehrerinnen gravierend verletzt werden, weil Religiosität neben anderen Weltanschauungen nicht mehr sichtbar sein darf? Entspricht dies der Wertevermittlung unserer Schulen? Und entspricht das dem Anspruch und Geist unseres Grundgesetzes? Dem Schutz den Artikel 4 GG gewährt?

Das Kopftuch: Ein islamisches "Symbol"?

Und wohin führt es uns schließlich, wenn wir anstatt uns miteinander zu verständigen, mit Schlagworten ein religiöses Bekleidungsstück derart politisieren? Das Kopftuch als "religiöses Symbol" ist inzwischen in aller Munde. Weder handelt es sich beim religiös bedingten Tragen eines Kopftuches aber um eine politische Aussage, noch wird damit die Selbstdarstellung der eigenen Religion beabsichtigt. Es handelt sich eben um einen Teil der Bekleidung seiner Trägerin, nichts anderes. Eine Art der Bekleidung, die es seiner Trägerin ermöglicht, im Einklang mit ihren Glaubensüberzeugungen zu leben und die ihren religiösen Gefühlen Rechnung trägt. Sehr leichtfertig wird häufig von muslimischen Frauen gefordert, das Kopftuch abzulegen oder es nur zeitweise zu tragen. Fehlen denn in unserer Gesellschaft inzwischen tatsächlich das Gespür und die Sensibilität für die religiösen Auffassungen und Bekleidungsarten und damit verbundenen Empfindungen anderer?
Wer hat das Recht, einer Frau das Tragen eines Kopftuches aufzuzwingen oder ihr das Ablegen vorzuschreiben? Niemand aus unserer Sicht! Wer sagt, dass eine Frau, die ein Kopftuch trägt, nicht berufstätig sein kann oder keine gute Lehrerin sein kann?

Wir hoffen in dieser Frage auf eine angemessene und sachliche Auseinandersetzung. Nur so können Vorurteile und Ängste abgebaut und das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen und Kulturen in Deutschland gefördert werden.
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Dieser Text wurde bereits in den Wochen vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht und nun geringfügig aktualisiert.

DMK AG “Muslimische Frau in der Gesellschaft”