Männer und Frauen als Verbündete - Interview mit Prof. Ingrid Mattson
Prof. Ingrid Mattson spricht in diesem Interview mit nafisa.de über wichtige Fragen rund um Frauen, Männer und Islam: über Geschichten muslimischer Frauen, die nicht erzählt werden, über die Bereitschaft des Korans auf Anliegen von Frauen zu antworten, über Geschlechterrollenmodelle und das koranische Ideal der geteilten Verantwortung von Männern und Frauen. Das Interview fand anlässlich ihres Gastaufenthalts am Institut für Islamische Theologie (Osnabrück) im Mai 2015 statt. Wir trafen sie nach ihrem Vortrag "And the believers, men and women, are protecting friends one of another (9:71) - Joint engagement for the sake of the community" Das Video findet sich in unserem YouTube-Kanal und hier das vollständige Transkript des Interviews in Deutsch.
Nafisa.de: As-salamu alaikum! Wir hatten gestern das Vergnügen, Ihrem Vortrag über muslimische Frauen und Männer zuzuhören, und nun haben wir einige Fragen zu den interessanten Dingen, die Sie uns berichtet haben. Die erste Frage ist die nach dem Konzept der Konspiration des Schweigens, ein interessanter Begriff, den Sie verwendet haben. Es geht um den Fakt, dass die Geschichten muslimischer Frauen nicht oft erzählt werden oder sogar gar nicht erzählt werden. Warum ist das so, und was können wir dagegen tun?
Prof. Ingrid Mattson: Mittlerweile verbessert es sich, in den letzten paar Jahren haben wir angefangen, dieses Problem deutlicher anzugehen und die Menschen darauf aufmerksam zu machen. Für mich hat es wirklich begonnen, als ich eine Reihe von Jahren islamische Geschichte und die Geschichte islamischer Traditionen gründlich studiert hatte und in der Lage war die Original-Quellen zu lesen, insbesondere die biographischen Lexika (tabaqat) und andere Literatur, die das tatsächliche Leben der Muslime in verschiedenen Zeiten beschreibt. Ich war stark beeindruckt von den erstaunlichen Frauen, mir sind immer wieder Namen von solchen Frauen untergekommen. Als ich Muslimin wurde, wurde mir erzählt, was der Islam ist, und mir wurde z.B. gesagt, dass Frauen nicht in die Öffentlichkeit, sondern in den privaten Bereich gehören – wissen Sie, alle diese Erklärungen. Und ich hörte auch viele Stimmen von Feministinnen und anderen, die den Islam dafür kritisierten, dass er niemals Frauen einen Platz gegeben hat. Sie sagen, wenn der Islam gilt, sind Frauen auf das Haus beschränkt, den haram (privaten Bereich) – und die meisten Muslime sagten: „Ja, da sollte sie auch sein! Das ist eine gute Sache.“ Sie suchten also vernünftige Gründe dafür. Aber die Quellen erzählten mir eine komplett andere Geschichte.
Ich habe in den Überlieferketten von Rechtstexten, von Hadith-Texten Namen von Frauen gefunden. Dann schlug ich sie in den biographischen Lexika nach und fand diese Frauen. Die Frage, die sich mir stellte, war: Warum sind sie verschwunden? Warum werden die Frauen im Kämmerchen versteckt? Was ist passiert? Ich fand auch, dass es viele moderne Editionen und Publikationen von traditionellen Texten gab, die nicht textgetreu waren, es waren keine wissenschaftlichen Publikationen. Bei wissenschaftlichen Publikationen reproduziert man den originalen Text so akkurat wie möglich. Aber ich sah in den modernen Publikationen, die von vielen zeitgenössischen religiösen Verlagshäusern produziert wurden, dass sie tatsächlich vieles vom Material entfernt haben. Sie sagten z.B. dieses Buch ist Ibn Qayyims „Buch der Seele“ oder Imam al-Ghazalis „Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“. Aber tatsächlich hatten die Herausgeber vieles von dem Material entfernt. Und manchmal haben sie viel von dem Material entfernt, das von Frauen handelt. Das ist eindeutig ideologisch motiviert, eine absichtliche Handlung, die auf der Sicht basiert, dass Frauen einen bestimmten Platz in der Gesellschaft haben sollten. Das ist einer der Gründe.
Der andere Grund ist etwas anderes: Wir als Menschen sind ganz natürlich an Menschen interessiert, die wie wir sind. Wenn wir in einer Gruppe von Menschen keinen kennen, zu wem gehen wir, um uns zu unterhalten? Zu jemandem mit dem wir uns wohl fühlen – warum? Weil er auf eine Art und Weise so zu sein scheint wie wir. Das ist eine sehr natürliche menschliche Reaktion. Aus einer Reihe von Gründen, politischen und historischen Gründe, sind die Leute, die in der Moderne islamische Literatur produzierten hauptsächlich Männer, und es geht einfach darum, dass diese Geschichten etwas in ihnen ansprechen, etwa die Geschichten der männlichen Prophetengefährten. So findet man Bücher, moderne Publikationen, z.B. mit den Geschichten der Prophetengefährten. Sie haben vielleicht – und ich möchte keine Namen von bestimmten Büchern nennen, aber man kann das sehen, wenn man die wichtigsten Publikationen vor zwanzig Jahren anschaut – sie haben vielleicht eine oder zwei der Mütter der Gläubigen oder Fatima aufgenommen, möge Gott mit ihr zufrieden sein. Aber die anderen 30 Einträge sind dann all männliche Prophetengefährten. War das absichtlich, um die Frauen zu verstecken? Ich glaube nicht. Ich denke einfach, als sie die Geschichten der Männer gelesen haben, hat sie das angesprochen, also nahmen sie diese in das Buch auf. Jetzt sind mehr muslimische Frauen in der Wissenschaft tätig, und auch wir suchen nicht gezielt nach Frauen oder haben eine Agenda, die Frauen in den Vordergrund zu rücken. Aber wir lesen die Geschichte einer muslimischen Frau und es gibt eine bestimmte Resonanz, eine Wiedererkennung in ihr. Also wollen auch wir ihre Geschichte erzählen. Teil der Lösung ist natürlich, dass wir sowohl Männer als auch Frauen brauchen, sowie Männer und Frauen aus verschiedenen ethnischen Gruppen, verschiedenen kulturellen Gruppen, mit verschiedenen Hautfarben, die sich an Wissenschaft und Führungsaufgaben beteiligen. So können wir alle unsere Interessen und Perspektiven und die Geschichten, die uns ansprechen, in die zeitgenössische Literatur und den Unterricht bringen.
Nafisa.de: Meine nächste Frage knüpft an diese an: Sie sprachen vom postkolonialen Islam und sagten, dass wir in dieser Epoche leben und dieser postkoloniale Islam unsere Ideen vom Islam und besonders vom Frau-Sein und vom Mann-Sein formt. Können Sie das erläutern und ist das auch eine Ursache für so etwas wie eine Konspiration des Schweigens?
Prof. Ingrid Mattson: Mittlerweile sind viele Generationen von Muslimen in die postkoloniale Zeit geboren worden. Der europäische Kolonialismus in der islamischen Welt begann ja in einigen Gegenden schon im 16./17. Jahrhundert. Das hat die muslimischen Gesellschaften verändert, und viele Generationen, die danach geboren sind, haben natürlicherweise muslimisches Leben und das Wissen darüber, was ein muslimisches Leben ist, von ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern erfahren. Sie haben angefangen zu denken, dass das der traditionelle Islam ist, dass das die islamische Tradition ist. Denn nicht nur ich wurde so erzogen, auch meine Eltern wurden so erzogen und meine Großeltern. Dabei haben sie nicht vollständig verstanden, dass die Art und Weise wie der Islam praktiziert wurde, durch das koloniale Zusammentreffen komplett verändert wurde. Das ist besonders wichtig, wenn wir auf die Situation der Frauen in muslimischen Gesellschaften schauen. Denn es gibt sehr viele Hinweise auf die Entfernung von Frauen aus dem öffentlichen Leben gerade durch den Kolonialismus. Wael Hallaq, der Professor für islamisches Recht an der Columbia University in New York ist, hat ein wunderbares Lehrbuch zur Scharia und der Geschichte der Scharia geschrieben: Er sammelt darin viele Quellen, um u.a. zu zeigen, dass in der prä-kolonialen Phase Frauen bis zu 50%, also ungefähr die Hälfte der Personen stellten, die die religiösen Stiftungen (auqaf) einrichteten und auch beaufsichtigten. Die Aufsicht über eine religiöse Stiftung oder eine wohltätige Stiftung ist eine öffentliche Rolle, es ist eine Rolle mit öffentlicher Autorität.
In der modernen islamischen Literatur wird eine Dichotomie zwischen öffentlichen Funktionen für Männer und privaten Funktionen für Frauen hergestellt. Das spiegelt die europäische, protestantische, bürgerliche Teilung der Gesellschaft im 19. Jh. wider. Es reflektiert nicht, wie eine muslimische Gesellschaft über tausend Jahre in der klassischen Epoche ausgesehen hat. In der klassischen Zeit gab es diese Art von Trennung zwischen öffentlich und privat nicht, nicht auf die gleiche Weise. Die Stärke der muslimischen Gesellschaft beruhte auf einer breiten Diversität und auf einer dezentralen Organisation von religiösem Leben, Bildung und Wohltätigkeit. Die Regierung spielte nur eine minimale, beschützende Rolle, indem sie die Sicherheit der Gesellschaft sicherstellte, die Sicherheit der Grenzen und die Herrschaft des Rechts. Aber religiöses Leben, Aktivitäten, Funktionen, Bildung wurde nicht von oben nach unten dirigiert. Sondern sie war divers und plural, gerade weil sie auf diesen unabhängigen und freien wohltätigen Stiftungen beruhte, in die Frauen stark involviert waren, sowohl in ihrer Errichtung als auch ihrer Aufsicht und der Bestimmung der Prioritäten dieser Stiftungen. Die meisten modernen Muslime wissen das nicht – sofern sie nicht diese neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse studiert haben. Wir müssen also verstehen, wie tief der Kolonialismus die Struktur der Gesellschaft beeinflusst hat. Als die Kolonialisten kamen und die Stiftungen zerstörten oder sie übernahmen, wohin sollten diese Frauen gehen? Außerdem: Immer wenn es Krieg und Besatzung gibt und die Gesellschaft sehr unstabil und gefährlich wird, ist es natürlich, dass die Menschen sich aus öffentlichen Aktivitäten zurückziehen, besonders Frauen. Sie beginnen also, ihre öffentlichen Aktivitäten zurückzunehmen und versuchen in einer sichereren Zone zu bleiben. Es stimmt, dass man in Zeiten von Kolonialisierung, militärischen Unruhen und Besatzung sehr viel weniger Frauen im öffentlichen Raum sieht. Aber das ist nicht so, weil es „islamisch“ oder der richtige Weg oder die Rolle von Frauen im Islam ist, sondern weil die normale Gesellschaft sich unter Besatzung befindet und gestört ist. Wir müssen wirklich unser eigenes Erbe wieder beanspruchen und verstehen, wie tief nicht nur Individuen, sondern unsere Gesellschaften traumatisiert wurden, wie die normalen Beziehungen zwischen Männern und Frauen in der Kolonialzeit traumatisiert und zerstört wurden.
Nafisa.de: Ich möchte noch eine andere Frage nach einem von Ihnen verwendeten Begriff stellen, der Begriff „die Sunnah des Koran“. Sie sprachen von der Bereitschaft des Korans auf Anliegen von Frauen einzugehen als eine Art der Sunnah des Korans. Können Sie ein Beispiel geben und das ein wenig erläutern?
Prof. Ingrid Mattson: Das ist eine Sichtweise, die ich basierend auf der Erkenntnis entwickelt habe, dass der Koran im Hinblick auf das, was er uns sagt und was er bedeutet, auf viele verschiedene Arten verstanden werden kann. Wir können den Koran linguistisch studieren, wir können den historischen Kontext studieren, wir können die Regelungen studieren. Dann ist es auch sehr fruchtbar, die Themen des Korans zu studieren: Gerechtigkeit, Sorge für die Armen, die Beziehung zwischen Allah und der Menschheit, kollektive Verantwortung ebenso wie individuelle Verantwortlichkeit gegenüber Allah – das sind alles wichtige Themen des Korans. Wir wissen auch, dass ein Teil der Bedeutung des Korans sein Klang ist, die Rezitation, die Art und Weise der koranischen Sprache, die Wörter, die Struktur; der Umstand, dass der Koran nicht in einfacher Prosa geschrieben ist, sondern alle diese Aspekte hat von Reim, Rhythmus und Dingen, die ihn schön werden lassen. Die Schönheit ist eine Botschaft des Korans: dass wir schön sein sollten in unserer Religion, in unserer religiösen Sprache. Das ist also eine Botschaft. Bezüglich der Antwortbereitschaft des Korans habe ich in Ermangelung eines besseren Begriffs darauf basierend das Konzept der Sunnah des Korans entwickelt.
Es ist so: Wenn wir im allgemeinen von Sunnah sprechen, z.B. von der Sunnah des Propheten, können wir sagen, die Sunnah des Propheten Muhammad – Friede sei mit ihm – war Freundlichkeit, Großzügigkeit, Aufmerksamkeit gegenüber Menschen, und das können wir mit den jeweiligen Hadithen belegen. Dann gibt es natürlich den Ausdruck der Sunnah Allahs mit der Menschheit. Was ist die Sunnah Allahs mit der Menschheit? Sie ist, dass Allah uns eine Chance gibt, uns warnt, uns gibt, was wir wissen müssen und wenn wir fortfahren, Ungerechtigkeit und Schaden anzurichten, werden wir Bestrafung hervorrufen. Aber wenn wir uns Ihm in Reue zuwenden, wird Er uns vergeben. Das ist die Sunnah Allahs mit uns. Die Sunnah des Korans ist, was wir immer und immer wieder sehen, dass der Koran – nicht immer, aber in sehr vielen Fällen, und das ist einer der Aspekte der Sunnah des Korans – als Antwort auf Ungerechtigkeit, Klagen, Schwierigkeiten und Bedrängnisse der Schwachen offenbart wurde. Es gibt so viele Beispiele: die ersten Muslime, die verfolgt wurden, wie Sayidina Bilal, möge Allah mit ihm zufrieden sein. Die ersten Muslime wurden verfolgt und einige von ihnen mussten sogar verbal den Glauben an Allah widerrufen. Etwas vom Koran wurde als Antwort darauf offenbart um sie zu trösten, so dass sie sicher wissen, dass es keine Sünde war, und dass Allah versteht, was in ihren Herzen ist.
Wenn ich den Koran lese und sehe, wie er an verschiedenen Stellen Frauen anspricht, ist es erstaunlich zu sehen, dass dies in der großen Mehrheit der Fälle eine Antwort auf eine Beschwerde einer Frau ist, auf ihre Bedrängnis, auf ihre schwierige Situation. Man kann also sagen, die Sunnah des Korans in Bezug auf Frauen ist die Bereitschaft zu antworten, um sie zu versichern, dass Allah sie liebt, dass Allah sie hört, dass ihr Unrechtsbewusstsein gültig ist. Wenn das die Sunnah des Korans ist, sollte es auch unsere Sunna sein – mit den Menschen, mit denen die nach Hilfe rufen, ob es Frauen sind, Flüchtlinge oder was auch immer. Ein deutlicher Fall für diese Bereitschaft des Korans den Frauen zu antworten, ist der Fall von Mudschadala [die Diskutierende, vgl. Sure 58]. Al-Mudschadalah, die mit dem Propheten über eine bestimmte islamische Praxis diskutierte und sich bei Allah beklagte. Was in Bezug auf ihre Situation [in Sure 58] offenbart wurde, war eine solche Bestätigung ihres Unrechtsbewusstseins, ihres Rechts sich zu beschweren, ihres Glaubens, dass Allah gerecht ist und diese Situation ändert. Wir haben auch den Fall von Aischa – möge Allah mit ihr zufrieden sein – als sie fälschlicherweise einer Ungehörigkeit beschuldigt wurde, und einige Verse in Sure An-Nur als Antwort auf ihre schwierige Situation offenbart wurden. Wir haben viele Beispiele dafür. Wenn wir das ignorieren, wenn wir diese starke Botschaft des Korans ignorieren, die Sunnah des Korans, dann fehlt uns ein wichtiger Teil von dem was Allahs Rechtleitung, Seine letzte Offenbarung an die Menschheit uns sagt, nämlich, dass das unsere Position sein muss. Wir müssen die gleiche Art von Präsenz haben und die gleiche Bereitschaft zu antworten.
Nafisa.de: Auf der einen Seite haben wir die koranische Bereitschaft zu antworten und auf der anderen Seite sprachen Sie von aktivem Glauben. Das ist vielleicht das Gegenstück, diese Personen und Frauen waren aktiv. Sie erwähnten Hadschar, Friede sei mit ihr, als ein Beispiel oder Rollenmodell für aktiven Glauben, das bis heute verkörpert wird in den rituellen Praktiken der Hadsch. Was bedeutet eine Tradition des aktiven Glaubens für uns heute?
Prof. Ingrid Mattson: Ja, genau – es bedeutet, dass wir nicht einfach herumsitzen, uns beklagen und nichts dagegen tun. In allen diesen Beispielen haben die Frauen etwas getan. Sie sind zu der religiösen Autorität gegangen, die damals natürlich der Prophet – Friede sei mit ihm – gewesen ist. Sie haben nach einer Veränderung gefragt, sie haben nach einer Antwort gefragt, sie haben verlangt, dass ihre Situation thematisiert wird. Das ist das Modell für muslimische Frauen, wenn wir wissen wollen, was muslimische Frauen tun sollen: Wenn etwas falsch ist, sollten sie aktiv daran beteiligt sein, es zu ändern. Nicht wie manche Leute sagen: „Du wirst belohnt, wenn du geduldig bist.“ Du wirst nicht belohnt, wenn du passiv Ungerechtigkeit in der Gesellschaft akzeptierst. Wenn Du keine Wahl hast, wenn es keinen Ausweg gibt, wenn jemand dich in Ketten hält und du hast keine andere Möglichkeit, dann wird dein fortgesetzter Glaube an Allah natürlich belohnt. Aber wir – muslimische Männer oder Frauen – sind nicht gefordert, einfach zu akzeptieren, dass wir geschädigt und verletzt werden, ohne uns dagegen einzusetzen.
Deshalb habe ich meinen Vortrag mit einem Vergleich der biblischen Passage angefangen, die Hadschars Situation in der Wüste beschreibt, und einem Hadith des Propheten, Friede sei mit ihm, in dem er beschreibt, was passierte, als Hadschar mit Ihrem Sohn Ismail, vom Propheten Ibrahim, Friede sei mit ihnen allen, in die Wüste gebracht wurde. In der biblischen Passage in Genesis wird Hadschar sehr passiv beschrieben: Sie spricht niemals, sie wird von Ibrahim weggeschickt, sie sitzt und weint. In dem wunderschönen Hadith, in dem der Prophet die Geschichte von Hadschar erzählt, ist sie aktiv: Sie fragt den Propheten Ibrahim: „Ist das von dir oder von Allah?“ Und als er sagt: „Das ist von Allah“, sagt sie: „Allah wird uns nicht im Stich lassen!“ Als ihr das Wasser ausgegangen ist, setzt sie sich nicht hin und weint, sondern läuft und sucht nach einer Wasserquelle. Als das Wasser gefunden ist und einige Leute kommen und fragten: „Können wir mit euch hier leben und auch von dem Wasser profitieren?“, sagt sie: „Ja, aber ich werde das Wasser kontrollieren!“ Sie vertraut auf ihr Recht, diese Autorität auszuüben, und sie vertraut auch auf ihre Fähigkeit, gerecht und fair zu sein und sicherzustellen, dass niemand das Wasser an sich nimmt. Denken Sie daran wie oft heute kommerzielle Firmen Wasserquellen an sich nehmen und das Wasser verkaufen. Die gewöhnlichen Leute werden in Schwierigkeiten zurückgelassen, weil es nicht genügend Wasser gibt oder keine Fische mehr aufgrund dieser Situation. Hier ist sie also und sagt: „Ich übernehme die Kontrolle!“ Denn sie ist eine aufrichtige Person, jemand zu dem Allah einen Engel gesandt hat, dem Allah ein Wunder gesandt hat, eine Person, die Allah ausgewählt hat, einen Aspekt der wichtigsten Rituale im Islam zu stiften [den Lauf zwischen Safa und Marwa]. Er wählte sie, das zu tun – natürlich ist sie eine Person, die auch weltliche Autorität haben sollte und diese mit Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit ausüben kann.
Nafisa.de: Wenn wir über muslimische Frauen und Männer sprechen, sprechen wir meistens über einen bestimmten Typ Frau und einen bestimmten Typ Mann. Wir denken also über die Frage nach: Gibt es das eine ideale Modell für eine muslimische Frau und einen muslimische Mann und für die Beziehung zwischen Männern und Frauen?
Prof. Ingrid Mattson: Muslime sind genauso Individuen wie alle anderen Menschen. Allah gibt den Menschen alle möglichen verschiedenen Fähigkeiten, Er gibt Männern verschiedene Fähigkeiten und Frauen verschiedene Fähigkeiten. Und das ist notwendig. Wenn wir alle die gleichen Begabungen hatten, hätte die Gesellschaft nicht alle Dinge die wir brauchen. Es gibt z.B. Leute, in deren Natur es liegt, Risiken auf sich zu nehmen. Das sind diejenigen, die die Risiken vernachlässigen und bereit und in der Lage sind, physische Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Das sind die Leute, die raus an die Grenze gehen, die, wenn etwas gebraucht wird, rausgehen und nach Möglichkeiten suchen. Sie helfen, die Menschheit voranzubringen. Das sind diejenigen, die, wenn sie nachts ein Geräusch hören, sich nicht verstecken, sondern aufstehen und nachschauen. Wir brauchen diese Leute. Dann gibt es diejenigen, die introvertierter sind, die sich nicht wohl dabei fühlen, Risiken einzugehen, aber eine große Fähigkeit haben, Details zu beachten und komplexe Informationen zu verarbeiten. Ich denke immer an die Hadith-Gelehrten als solche Leute. Die Hadithgelehrten sind wie Programmierer oder Mathematiker, sie sind in der Lage eine Menge Daten und Informationen zu sammeln und können sich Stunden um Stunden darauf konzentrieren – ich könnte das nicht tun. Das ist nicht meine Persönlichkeit. Aber Gott sei Dank gibt es Leute, die in der Lage sind, das zu tun! Wir brauchen uns alle gegenseitig.
Als ich im Aufbaustudium war und zwei Kinder hatte, war es sehr schwierig alle diese Dinge zu organisieren. Ich lebte bei einer wundervollen Frau, Khala Adila, eine Witwe aus Syrien, sie lebte in Chicago. Sie lud mich ein, in ihrem Haus zu wohnen, während ich Studentin war. Sie sagte zu mir: „Schau, ich kann nicht alle diese Bücher lesen und studieren und sprechen“ – sie hatte mich im Radio gehört und meine Vorträge – „„Ich kann all das nicht tun. Mach du das! Aber du kannst nicht kochen.“ Ich bin tatsächlich eine sehr schlechte Köchin. „Aber ich kann großartig kochen!“ Und es ist wahr, ihr Essen ist köstlich. Sie sagte: „Wir arbeiten zusammen!“ Das ist die Schönheit daran: Nicht jede Frau wird eine gute Köchin sein, nicht jede Frau ist interessiert an Wissenschaft, wir haben alle verschiedene Fähigkeiten und Männer sind genauso verschieden. Auch Männer werden manchmal in Rollen gezwungen, die ihrer Natur nicht entsprechen. Es entspricht ihrer Persönlichkeit nicht, ihren Fähigkeiten nicht.
Das wichtigste ist, dass wir die Diversität, die Allah in uns gelegt hat, wirklich wertschätzen. Wir sprechen immer davon, dass Allah der Erhabene uns in verschiedenen Völkern und Stämmen geschaffen hat. Wir sprechen von den verschiedenen Sprachen, Kulturen und Farben, aber wir müssen auch auf die verschiedenen Persönlichkeiten achten. Wir sehen das definitiv bei den Prophetengefährten, es gibt unter ihnen Frauen und Männer mit allen verschiedenen Persönlichkeiten. Es ist wichtig, dass wir den Menschen erlauben, diese Persönlichkeiten zu entwickeln, so dass wir eine starke Gesellschaft haben, in der es Menschen gibt, die ein Spiegel für uns sind, die anders sind als wir, die an uns Dinge erkennen können, die Fehler sind und die uns ermutigen können in den Bereichen, in denen wir weiter wachsen können.
Dass wir verschieden sind, heißt auch, dass unsere Beziehungen als Männer und Frauen verschieden sein werden. Wir werden nicht alle die gleiche Art von Ehe führen, es gibt nicht die eine ideale muslimische Ehe. Ja, es gibt einige allgemeine Parameter für die Menschen, für das Familienleben, wir sollten Liebe und Barmherzigkeit haben, wir sollten uns gegenseitig respektieren, wir sollten sicherstellen, dass wir für unsere Verantwortung eintreten. Aber das ist ein sehr grober Rahmen innerhalb dessen wir unsere individuellen menschlichen Fähigkeiten entwickeln, wachsen und interagieren können, dann lernen wir voneinander und vervollständigen uns gegenseitig. Auch als Familie können wir, so Gott will, die verschiedenen Bereiche abdecken.
Nafisa.de: In Sure 9, Vers 71, sehen Sie einen theologischen Imperativ für Männer und Frauen, Verbündete zu sein um der Gemeinschaft willen. Aus welchem Grund sehen Sie hier einen Imperativ, und was bedeutet es, Verbündete zu sein?
Prof. Ingrid Mattson: Das ist der Vers, in dem Allah der Erhabene sagt: „Die gläubigen Männer und Frauen sind einer des anderen Beschützer.“ Wilayah ist eine sehr ernste Beziehung, es ist ein Bündnis. Wenn wir in einer Beziehung von wilayah sind, bedeutet das, dass wir absolut loyal einander gegenüber sind, dass wir uns gegenseitig beschützen, dass wir füreinander da sind. Im Englischen sagen wir, „Ich stehe hinter dir“, d.h. du brauchst mich und ich bin für dich da.
Es ist erstaunlich, dass Gott diese Beziehung als wilayah, als eine Beziehung von Verbündeten, beschreibt im Kontext der Errichtung einer Gemeinschaft, der Einrichtung des Gebets. Das Gebet einzurichten heißt, die Moscheen aufzubauen, die Freitagspredigt zu organisieren und alle diese verschiedenen Dinge. Dass wir die Zakat etablieren heißt, dass wir diese ganze Struktur und das System aufbauen, Spenden zu sammeln und Spenden zu verteilen; dass wir das Gute befehlen und das Schlechte verbieten. Das bedeutet, dass die kollektiven Verpflichtungen (furud kifayah), die wir zusammen haben, Verpflichtungen sind, die gemeinsam erledigt werden müssen, von Männern und Frauen gemeinsam. Wenn wir das zusammen tun, dann wird Allahs Gnade mit uns sein. In dem Vers sagt Allah: „Dies sind diejenigen, denen Allah barmherzig sein wird.“
Wir sind dringend auf Allahs Barmherzigkeit angewiesen! Niemand kann bestreiten, dass wir dringend auf Allahs Barmherzigkeit angewiesen sind. Wenn wir diese Barmherzigkeit wollen, sollten wir in unseren gemeinsamen Verpflichtungen zusammenarbeiten – denn, wie ich in meinem Vortrag erwähnt habe, Allah sagt in der gleichen Sure zuvor, dass die Heuchler und Heuchlerinnen zusammengehören – aber sie sind keine Partner. Das ist interessant: Es zeigt, dass die Allianz zwischen ihnen auf gemeinsamen Interessen aber nicht auf wahren Werten beruht. Das bedeutet, dass wir zuversichtlich sein sollten, dass trotz allem, was sie haben – Raffinesse, Geld und finanzielle Unterstützung, Zugang zu den Medien – wenn wir zusammenstehen, wird unsere Partnerschaft stärker sein und dauerhafter, weil sie auf Integrität beruht, anstatt einfach nur auf einem zynischen Interessenbündnis.
Nafisa.de: Vielen Dank!