Missbrauch religiöser Autorität - Reputation als Tor zur (virtuellen) Beziehungsanbahnung
von Dr. Silvia Horsch und Dr. Mahmud Kellner
Im Mai diesen Jahres veröffentlichte Ustadha Zaynab Ansari, eine in Syrien ausgebildete amerikanische Gelehrte, einen Artikel mit dem Titel„Blurred Lines: Women, ‘Celebrity‘ Shaykhs, and Spiritual Abuse“. Der Artikel wurde vielfach kommentiert und in sozialen Netzwerken geteilt. Es geht darin um Beziehungen einiger prominenter Gelehrter bzw. Prediger mit ihren Schülerinnen und Bewunderinnen. Beziehungen, die auf dem Weg der Wissenssuche beginnen und in einer zwar Scharia-konformen, aber heimlichen und meist kurzen Ehe, häufig als Zweit- oder Drittfrau, enden. Dazwischen liegen Facebook-Freundschaftsanfragen und e-mail-Kontakte, Unterhaltungen im Cyberspace, die von Wissensfragen zu persönlichen Themen übergehen und schließlich den Charakter eines Flirts erhalten. Natürlich stellen Gelehrte und Prediger, die solche Beziehungen eingehen, eine kleine Minderheit dar. Ustadha Zaynab Ansari wurde jedoch von so vielen betroffenen Frauen kontaktiert, dass sie sich schließlich veranlasst sah, über dieses Phänomen öffentlich zu sprechen.
„Ach, Amerika“, ist vielleicht der erste Gedanke von vielen, „die Muslime dort sind uns im Guten wie Schlechten um einiges voraus – gut, dass es das bei uns nicht gibt.“ Leider ist jedoch dieses Phänomen auch bei uns vorzufinden. Auch in Deutschland treten einzelne Männer als Gelehrte und Prediger in Erscheinung und nutzen die Autorität, die sie dadurch gewinnen, um Ehen und Beziehungen anzubahnen, die schnell wieder vorbei sind. Es wäre naiv zu glauben, dass die Voraussetzungen, die diesem Phänomen zugrunde liegen und die hier wie in den USA vorhanden sind, nicht auch zu den gleichen Ergebnissen führen würden. Zu diesen Voraussetzungen gehören: der (mediale) Kult um Prediger und Gelehrte, die Möglichkeiten der unbeobachteten Kommunikation zwischen den Geschlechtern im Internet und die Sorglosigkeit, mit der manche, insbesondere junge Menschen in Beziehungen stolpern – denn „̣ḥalāl“ heißt noch nicht verantwortungsbewusst.
Bei den Fällen, von denen wir Kenntnis erhalten haben, handelt es sich um Einzelfälle. Dies sei ausdrücklich betont, da es nicht unsere Absicht ist, Gelehrte oder Prediger allgemein in Verruf zu bringen oder ihnen gegenüber Misstrauen zu säen. Es geht auch nicht darum, öffentlich Namen zu nennen. Unsere Entscheidung, auf die Existenz dieses Phänomens aufmerksam zu machen, hat nur einen Grund: Wir wollen verhindern, dass der Islam und muslimische Gelehrte durch ein solches Verhalten weiter in Verruf gebracht werden und die Liste der geschädigten Frauen verlängert wird. Dabei geht es nicht nur um Frauen, die sich auf derartige Beziehungen eingelassen haben, sondern auch um solche, die von solchen Personen über das Internet belästigt werden. Die Methode dieser Personen soll deutlich werden, damit man bestimmte Muster besser erkennen und gegebenenfalls auch das eigene Verhalten überdenken kann. Auch die Verantwortung der Männer ist dabei angesprochen: Wer mitbekommt, dass ein Bruder seine religiöse Autorität zur seriellen oder gar parallelen Beziehungsanbahnung missbraucht, sollte dies nicht stillschweigend tolerieren, sondern ihn darauf ansprechen – vorausgesetzt, er ist in der Position dazu. Bei den schwarzen Schafen muss die Botschaft ankommen, dass die muslimische Gemeinschaft entschieden gegen den Missbrauch von Frauen und dem Missbrauch des Islams vorgehen soll. Nun zu den Voraussetzungen.
(Medialer) Gelehrtenkult
Islam – so gewinnt man bisweilen den Eindruck – ist für eine Reihe von Muslimen weniger das, was im Alltag realisiert wird, als eine Freizeitbeschäftigung. Islam muss Unterhaltungswert haben und Redner werden zu muslimischen Veranstaltungen wie Stars angekündigt – so wächst die Zuhörerschaft und die Facebook-Fangemeinde. Unter Muslimen besteht eine große Verehrung für religiöse Gelehrte, was an sich nichts Schlechtes ist – im Gegenteil, die Liebe zu den Gelehrten ist etwas sehr Positives. Es scheint jedoch, dass diese Verehrung oft aus den falschen Gründen besteht: Nicht aus Liebe zum Wissen, das sich dieser Mensch angeeignet hat und nicht aufgrund der Fähigkeit, mit diesem Wissen die Menschen Allah näherzubringen, sondern um ein identitäres Vakuum zu füllen und sich durch die Zugehörigkeit zu einem „Scheich“ selbst aufzuwerten. Und wenn es nicht genug Gelehrte gibt, werden eben welche gemacht: Der Titel „Scheich“ wird heutzutage geradezu inflationär verliehen.
Dies ist kein Vorwurf an die Gelehrten selbst, bzw. diejenigen, die sich ernsthaft auf den Weg zum religiösen Wissen machen. Es ist eine Kritik an der blinden Verehrung, mit der viele Muslime denen entgegentreten, die sie als ihre religiösen Autoritäten ansehen. Die Prediger und Gelehrten – die auch nur fehlbare Menschen sind – werden auf ein Podest gestellt, das sie nahezu unangreifbar macht. Auch wenn sie selbst es immer wieder betonen, dass sie Menschen mit Fehlern sind: Es ist für viele ihrer Bewunderer nicht vorstellbar, dass jemand der viel Wissen in der Religion hat, zugleich Charakterschwächen haben könnte.
Die Möglichkeit der nach dem islamischen Recht formal einfachen Heirat (und Scheidung) wird natürlich auch von anderen Männern missbraucht. Hier geht es aber um solche Männer, denen aufgrund ihres religiösen Wissens eine Autorität zugeschrieben wird, die sie zu Repräsentanten des Islams und seiner Werte macht. Sie werden von vielen Muslimen nicht nur als wissend, sondern automatisch auch als aufrichtig, moralisch, charakterfest und vertrauenswürdig und von vielen Frauen als ideale Ehemänner wahrgenommen – was allerdings nicht zwangsläufig der Fall ist. Und wenn solche Autoritäten Frauen emotional ausnutzen, ist der Schaden besonders groß.
Kommunikation im Internet
Die öffentlich wahrnehmbare muslimische Gelehrten- und Predigerszene ist fast ausschließlich männlich. Das bedeutet, dass sich Frauen mit ihren religiösen Fragen häufig an Männer wenden und das sind naheliegenderweise solche, die erreichbar sind. Für zahlreiche Frauen ist der Internet-„Scheich“ leichter erreichbar als der Imam in der örtlichen Moschee (falls vorhanden), insbesondere wenn das Gespräch auf Deutsch stattfinden soll. Die relative Anonymität der Kommunikation über das Internet und die informelle Atmosphäre eines Facebook-Chats bergen jedoch Gefahren. Gerät eine unbedarfte Frau tatsächlich an das schwarze Schaf unter den Predigern, fällt ihr der fließende Übergang zwischen dem Austausch von religiösen Informationen und persönlichen Nachrichten möglicherweise nicht auf, bis es zu spät und sie bereits emotional involviert ist. Meist geht der erste Kontakt aber auch gar nicht von der Frau aus, sondern der „Gelehrte“ beginnt die Kommunikation z.B. über Facebook, etwa mit der harmlosen Anfrage doch einmal einen Text gegenzulesen. Die Frau fühlt sich geschmeichelt, weil sie von einem „Gelehrten“ als intellektuelles Wesen wertgeschätzt wird. Der vermeintlich fachliche Austausch wird dann in eine romantische Richtung gelenkt und der „Scheich“ vermittelt der Frau den Eindruck, er interessiere sich für ihre Person. Im weiteren Verlauf fragt er, so berichten betroffene Frauen, nach den Einstellungen zur Ehe. Die Antwort der Frauen fällt meist vorhersehbar aus, sie äußern Vorstellungen von Partnerschaft, gegenseitiger Liebe und der Absicht eine dauerhafte Beziehung zu führen. Dann testet der „Gelehrte“ aus, wie weit er gehen kann: Er äußert seine eigenen Vorstellungen von Ehe (sie sei ein reiner Vertrag, der nach Belieben mit Inhalten gefüllt werden könne; die ṣaḥābahhätten das auch nicht so eng gesehen), natürlich mit Versatzstücken aus dem islamischen Recht gespickt. In diesem Terrain erscheint er als Fachmann und beeindruckt mit seinen (vermeintlichen) Kenntnissen. Dazu kommt, dass die Frauen nicht mit einem Menschen mit Stärken und Schwächen kommunizieren, sondern mit einem „Gelehrten“, dem sie aufgrund dieser Position einen Vertrauensvorschuss gewähren. Ohne diesen Hintergrund wären sie auf das Gespräch zumeist gar nicht erst eingestiegen. Manche glauben, ihn durch seine Vorträge, seine inspirierenden Gedanken oder seine beeindruckende Rhetorik bereits ausreichend zu kennen, um ihm vertrauen zu können. Das persönliche Interesse schmeichelt ihnen und sie sind eher bereit, Dinge zu akzeptieren, die sie bei jedem „gewöhnlichen“ Mann ablehnen würden, z.B. dass die geplante („ḥalāl“)-Beziehung nicht an die große Glocke gehängt oder gar nicht erst bekannt gemacht werden soll, dass kein gemeinsamer Wohnort existieren soll oder dass die erste Zeit der Ehe als eine Art „Ausprobieren“ genutzt werden soll. An diesem Punkt sind die allermeisten Frauen trotz aller Rumi-Zitate und professionellen Süßholzsraspelei („Die Liebe meines Lebens!“) bereits wieder ausgestiegen. Einige lassen sich jedoch manipulieren, obwohl spätestens jetzt die Alarmglocken in den höchsten Tönen läuten müssten.
In-die-Ehe-stolpern
Womit wir bei der nächsten Voraussetzung wären: Zwar ist Muslimen, die das Verbot vorehelicher Beziehungen ernst nehmen, die Möglichkeit einer leicht zu lösenden Freundschaft verschlossen, das heißt aber leider nicht automatisch, dass sich alle den Schritt in die Ehe gut überlegen. Auch wenn die Scheidung erlaubt ist und vergleichsweise einfach vollzogen werden kann, bedeutet das nicht, dass eine islamische Ehe nicht mit Verantwortung verbunden ist. Der Ehevertrag wird im Koran nicht umsonst als ein „fester Bund“ (4:21) bezeichnet. Verantwortung muss für den Ehepartner/die Ehepartnerin und für aus der Ehe hervorgehende Kinder übernommen werden. Zur Verantwortung gehört für beide, in diesem Fall aber besonders für die Frau, die Absichten des zukünftigen Ehepartners zu prüfen: Wenn dieser die Verbindung nicht bekannt geben will, nicht standesamtlich heiraten will, keine angemessene mahr (Brautgabe) zahlen will, keine Kinder haben möchte oder ohne triftige Gründe eine Fernbeziehung führen möchte, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass etwas mit der Absicht nicht stimmt. Es liegt in der Verantwortung der Frauen selbst (und ihrer Familien) Nachforschungen anzustellen und sich nach dem Heiratskandidaten zu erkundigen. Allein aufgrund der Tatsache, dass es sich um jemanden handelt, der als Prediger oder Gelehrter bekannt ist, sind noch keine Fragen beantwortet.
Es gibt sogar Fälle, bei denen Frauen zu einer sogenannten Genuss- oder Zeitehe (mutʿah) überredet wurden, indem ihnen erklärt wurde, dass es auch unter sunnitischen Gelehrten gültige Meinungen gäbe, die diese erlaubten. Eine Zeitehe wird von vorneherein mit der Absicht geschlossen, die Verbindung nach einer bestimmten Frist wieder aufzulösen. Diese, aus dem vorislamischen Arabien stammende Praxis, wurde in der ersten Zeit unter Muslimen in bestimmten Ausnahmefällen noch weitergeführt, sie wurde jedoch noch zu Lebzeiten des Propheten, Friede sei mit ihm, verboten. In anderen Fällen scheint der „Scheich“ zwar eine verbindliche Ehe eingehen zu wollen, aber auch hier kann es Hinweise auf andere Absichten geben, z.B. wenn er gezielt nach Konvertitinnen sucht (um die mahr niedrig zu halten und sich nicht mit den Forderungen der Familie auseinandersetzen zu müssen) oder keine Kinder möchte (um die Beziehung leichter wieder lösen zu können).
Die Betroffenen
Offenbar sind bestimmte Gruppen von Frauen als Zielgruppe besonders beliebt: unerfahrene Frauen, alleinstehende Frauen, die keine Familie im Hintergrund haben, die sich den Heiratskandidaten genauer anschaut; Frauen mit einem schwachen Selbstbewusstsein, psychisch labile und verletzliche Frauen sowie Frauen die innerhalb der muslimischen Community sozial stigmatisiert werden und sich z.B. aufgrund des Alters, als (mehrfach) Geschiedene oder als Alleinerziehende mit Kindern auf dem Heiratsmarkt geringe Chancen ausrechnen. Wenn dann ein „Scheich“ sie umwirbt, kann das für sie eine Aufwertung ihrer Person bedeuten (jedenfalls solange sie keine Ahnung davon haben, dass der „Scheich“ zahlreichen anderen Frauen ähnliche Nachrichten schreibt). Die emotionalen Folgen, wenn diese Beziehung von Seiten des „Scheichs“ alsbald wieder gelöst wird, kann man sich vorstellen.
Die betroffenen Frauen behalten ihre Erfahrung für sich, aus Scham und wohl auch aus Angst, dass ihnen selbst die Schuld zugeschrieben wird. Währenddessen hält der „Scheich“ weiterhin seine Vorträge und Lehrzirkel und belästigt weitere Frauen über das Internet – von Scham keine Spur. Während eine solche „Ehe“ für die Frauen erhebliche Konsequenzen hat, insbesondere im Hinblick auf eine erneute Heirat, geht der „Scheich“ immer neue Beziehungen ein. Nur der Umstand, dass er diese geheim halten will, zeigt, dass er trotz seiner spitzfindigen Argumentationen sich seines Fehlverhaltens bewusst ist.
Die Verantwortung der Gemeinschaft
Es ist davon auszugehen, dass auch Personen aus dem Umfeld solcher „Scheichs“ Bescheid wissen und dennoch seine Vorträge oder Bücher bewerben und seine FB-Einträge liken. Vielleicht ohne sich dessen voll bewusst zu sein, ermöglichen sie ihm damit, weiterhin auf der Suche nach manipulierbaren Frauen von seinem Gelehrtenhabitus zu profitieren. Ein religiöser Gelehrter ist jedoch kein Politiker, der seine öffentliche und seine private Rolle einfach trennen kann. Wer ein geheimes Ehe/Flirt/Dating-Doppelleben führt, hat sich als Gelehrter disqualifiziert und die Gemeinschaft darf ihm nicht länger eine Bühne bieten, auf der er sich als solcher gerieren kann – denn diese Bühne nutzt er, um weitere Frauen auf sich aufmerksam zu machen. Die Gemeinschaft hat nicht die Aufgabe, das Fehlverhalten eines „Gelehrten“ zu ignorieren, der seine Autorität und den Islam missbraucht, sondern sie hat die Aufgabe eine solche Person in ihre Grenzen zu weisen, denn ihr Verhalten bringt nicht nur Schaden für die betroffenen Frauen, sondern auch für den Islam und das Ansehen der Gelehrten. Dass ein solches Doppelleben zum Teil über mehrere Jahre möglich ist, wirft die beunruhigende Frage auf, wie es möglich sein kann, dass die muslimische Gemeinschaft so etwas durchgehen lässt. Hier verbinden sich offenbar die Auswirkungen des Gelehrtenkults mit den unterschiedlichen moralischen Standards die oftmals an Männer und Frauen angelegt werden.
Lösungsansätze
Es gibt für dieses Problem keine einfache Lösung. Jeder Mann und jede Frau muss sich seiner und ihrer Verantwortung bewusst sein, wozu auch gehört, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht einfach blind jemandem zu vertrauen, der viele Gelehrtenmeinungen zitieren kann.
Ganz offensichtlich braucht es mehr Aufklärung über das islamische Eherecht und seine Umsetzung in unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Es ist erschreckend, dass wir überhaupt darüber sprechen müssen, dass die Zeitehe verboten ist. Wer darüber nachdenkt, eine Ehe einzugehen, sollte sich zumindest über die Grundlagen des islamischen Eherechts informieren. Auf Deutsch sind diese z.B. nachzulesen im Band 5 der Islamologischen Enzyklopädie von Amir Zaidan, auch online einsehbar unter www.islam-wissen.com.
Solche Fälle offenbaren den Sinn, der in der Institution des walī liegt, des Vormunds (zumeist der Vater), dessen Aufgabe es ist, die Interessen der Frau zu vertreten und der deswegen den Heiratskandidaten genau prüft. Auch die mahr, die Brautgabe, kann zum Schutz beitragen: Vor allem Konvertitinnen, denen dieses Konzept zunächst vielleicht fremd ist, neigen dazu, sich mit einer symbolischen mahr zufrieden zu geben. Die mahr sollte zwar nicht übertrieben sein, aber angemessen, so dass der Mann damit auch der Ernsthaftigkeit seiner Absicht Ausdruck verleiht. Außerdem sollte zum Schutz der Frauen die islamische mit der standesamtlichen Eheschließung unbedingt verbunden werden. Wichtig ist es weiterhin, die Familien zu involvieren: Wenn der Mann der Meinung ist, dass die Familien erst später davon erfahren müssten, die Familie der Frau gar nicht erst kennenlernen will oder immer neue Ausflüchte findet, warum die Frau seine Familie nicht kennenlernen kann, ist von einer Eheschließung dringend abzuraten (gleiches gilt natürlich umgekehrt).
In seinem Buch Aḥkam al-usrah wa l-bait al-muslim („Regelungen der Familie und des muslimischen Hauses“, Beirut 2005) bezeichnet Scheich aš-Šaʿrāwī (gest. 1989) die Position, dass die Zeitehe erlaubt sei, als „eine Rechtfertigung für zinā (Unzucht)“. Er gibt die einhellige Position der früheren wie der späteren Gelehrten wieder, die alle die Zeitehe für verboten erklärten. Das Verbot geht u.a. eindeutig aus einem gesunden Hadith hervor, der von ʿAli, Allah möge mit ihm zufrieden sein, überliefert wurde: „Der Prophet verbot am Tag der Schlacht von Ḫaibar die Zeitehe und das Fleisch des domestizierten Esels.“ (Buḫārī, Muslim, u.a.). Der Kalif ʿUmar, Allah möge mit ihm zufrieden sein, ließ für die Zeitehe das gleiche Strafmaß gelten wie für zinā. Seine entschiedene Position ist Ausdruck davon, dass ihm dieses Wissen vom Propheten vermittelt wurde und es nicht das Ergebnis seiner eigenständigen Urteilsfindung (iǧtihād) war, wie u.a. der schafiʿitische Gelehrte Ibn Haǧar al-Asqalānī (gest. 852/1449) und der malikitische Gelehrte ʿAbd al-Bāqī b. Yūsuf az-Zarqānī (gest. 1122/1710) betonen. Al-Qāḍī Abū l-Walīd al-Bāǧī (gest. 474/1081), ebenfalls ein Malikit, bezeichnet ʿUmars Position als den Konsens der ṣaḥābah, weil ihm niemand widersprochen hat. Unter den Gelehrten gibt es nur Meinungsunterschiede (iḫtilāf) bezüglich des Strafmaßes, nicht bezüglich des Verbots der Zeitehe (vgl. aš-Šaʿrāwī, Aḥkām, 183-194).
Dies lässt für Scheich ʿAbd al-Fattāḥ al-Bizm, den hanafitischen Mufti von Damaskus, der zu diesen Fällen befragt wurde, nur folgenden Schluss zu: Jemand der Überlieferungen zum Verbot der mutʿah ignoriert und sich außerhalb des Konsens der sunnitischen Gelehrten stellt, um Frauen, die zu ihm als religiöse Autorität aufsehen, von der Zeitehe als islamisch legitimer Beziehungsform zu überzeugen, folgt im Gewand des Gelehrten seinen Trieben (ittibāʿ al-hawā). Darüber hinaus macht Scheich al-Bizm deutlich, dass es sich auch dann um zinā (Unzucht) handelt, wenn keine bestimmte Dauer der Ehe vereinbart wurde (also keine Zeitehe im technischen Sinne vorliegt): „Wenn jemand nur heiratet, um mit einer Frau seine Lust zu befriedigen, er diese Ehe nur wenige Wochen oder Monate dauern lässt und sie dann scheidet, um eine neue zu heiraten – das ist keine Ehe, kein gültiger Ehevertrag und damit zinā.“ Denn die Absicht zur Dauerhaftigkeit (daimūmah) und damit Ernsthaftigkeit der Ehe ist Bestandteil (rukn) einer gültigen Eheschließung. Diese Absicht muss im Vorfeld der Eheschließung so gründlich wie möglich überprüft werden. Wenn eine Frau keine Familie hat, die sich für sie einsetzt, sollte sie sich an vertrauenswürdige Personen werden, die sie beraten und die Schritte der Eheanbahnung begleiten. Es liegt auch in der Verantwortung der muslimischen Gemeinschaft, sich hier stärker zu engagieren und die Frauen – aber auch die Männer – nicht alleine zu lassen.
Dann müssen wir stärker darüber nachdenken, wie wir im Internet kommunizieren – insbesondere zwischen den Geschlechtern. Adab, das gute, angemessene, der Situation entsprechende und von Weisheit erfüllte Verhalten, ist gegenwärtig wohl nirgendwo notwendiger als im Internet. Es ist dringend Vorsicht geboten bei Kontakten, die im Internet entstehen, denn im virtuellen Raum kann jeder und jede alles erzählen und nichts ist überprüfbar. In jedem Fall ist Facebook der falsche Ort, um den zukünftigen Ehepartner zu suchen. Denn natürlich präsentiert eine Facebook-Chronik nur die Sonnenseite einer Person – in diesem Fall das religiöse Wissen. Manche Männer, auch in den Fällen um die es hier geht, nutzen Facebook und das Internet sogar gezielt, um Frauen auf sich aufmerksam zu machen, indem sie sich z.B. als besonders aufgeschlossen gegenüber Frauenthemen zeigen oder sich gar als Familienberater ausgeben.
Wenn eine Frau einem männlichen Gelehrten Fragen zur Religion stellen will, sollte sie darauf achten, dass keine Grenzen überschritten werden. Das Flirten mit Ratsuchenden oder Schülerinnen ist der Position eines Gelehrten absolut unwürdig und zugleich unprofessionell – genauso, wie wenn ein Arzt, Psychologe oder Seelsorger die Grenzen im Verhältnis zu seinen Patientinnen überschreitet. Wer Informationen zur Religion mit persönlichen Nachrichten vermischt, weist sich nicht als verantwortungsvoller Gelehrter aus. Besser ist es in jedem Fall, bei Fragen zur Religion nach einer vertrauenswürdigen Person im real existierenden Umfeld zu suchen.
Ustadha Zaynab Ansari weist in ihrem Artikel schließlich noch auf ein Defizit hin, das an solchen Fällen sichtbar wird: In Damaskus wurde sie auf starke Netzwerke von weiblichen Gelehrten und ihren Schülerinnen aufmerksam. Nach jahrelanger Beobachtung stellte sie fest, dass sie keine Frauen kannte, die selbstsicherer und souveräner waren. Umgekehrt beobachtet sie, dass Frauen, die nach männlichen Mentoren suchen und diese schließlich heiraten, ernste Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl haben. Das Problem, so ihre Schlussfolgerung, ruft auch nach weiblichen Gelehrten um diese Wissens- und Betreuungslücke zu füllen.
(November 2015)
Nachtrag:
In der Zwischenzeit sind weitere Artikel erschienen, die sich mit dieser Problematik befassen:
What do I do when I find out my favourite preacher is corrupt? by Omar Suleiman
On secret marriages by Dr. Shaykh Mohammad Akram Nadwi
Ausserdem widmet sich eine website dem Phänomen des spirituellen Missbrauchs: inshaykhsclothing.com
Dahinter steht ein Team aus Gelehrten, Psychologen und Anwälten.