Was macht Islamfeindlichkeit mit mir?

Ein persönlicher Rückblick auf die jüngere Geschichte der Islamfeindlichkeit in Deutschland
 
von Silvia Horsch
 
[Dieser Text ist eine gekürzte Fassung eines Buchbeitrags, der unter dem Titel „Muslimin werden in Deutschland – eine Entdeckungsreise“ erschienen ist in: Zu Hause in Deutschland – Gleiche unter Gleichen? Hg. v. Maria Braig, Linz 2017, S. 137-157. Das Buch ist mittlerweile vergriffen und die Herausgeberin erlaubte mir freundlicherweise die Veröffentlichung im Internet.]
 
„Sie sprechen aber gut Deutsch! Wo kommen Sie denn her?“ „Aus Rheinland-Pfalz.“ „Ja, aber ich meine, wo sind sie geboren?“ „In Österreich.“ „Also ich meine Ihre Eltern, wo kommen die denn her?“ „Aus Deutschland.“ Sage ich der Einfachheit halber, denn jetzt noch zu erklären, dass zwar mein Vater aus Bayern stammt, meine Mutter aber in einer Kolonie russlanddeutscher Mennoniten in Paraguay geboren und aufgewachsen ist, würde zu kompliziert werden. Wieso habe ich überhaupt so viele Auskünfte gegeben? Was geht diese wildfremde Frau das eigentlich an?
 
Aus dem Nest gefallen
Mich erklären zu müssen, ist eines der Dinge, an die ich mich gewöhnen musste, mich aber auch nach zwanzig Jahren immer noch nicht gewöhnt habe. Dass ich als deutsch-deutsche Frau einer privilegierten Gruppe angehört hatte, wurde mir erst bewusst, als ich begann ein Kopftuch zu tragen. Ich bin in der bürgerlichen Mittelschicht aufgewachsen – mit Eigenheim und Zweitwagen, Flöten- und Klavierunterricht, Trampolintraining und Gymnasialempfehlung. In dem Moment, in dem ich äußerlich als Muslimin erkennbar wurde, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich habe Mitte der 90er Jahre in Berlin den Islam angenommen, mit 21 Jahren, zu Beginn meines Studiums der Germanistik und Arabistik. Als ich einige Zeit danach begann, ein Kopftuch zu tragen, passierten mir Dinge, die ich vorher nicht kannte: Ich wurde gefragt, wo ich denn „ursprünglich“ herkäme, darauf angesprochen, dass ich ja so gut deutsch spräche, von wildfremden Menschen geduzt. Unbekannte begegneten mir mit einer befremdenden Distanzlosigkeit und schienen von mir zu erwarteten, dass ich ihnen bereitwillig über meine Lebensgeschichte und die meiner Familie Auskunft gebe. Oder sie beobachteten mich unverhohlen in der U-Bahn, um sich dann lautstark mit der Sitznachbarin über mich zu unterhalten. Bisweilen – zum Glück selten – wurde ich auch als „Verräterin“ beschimpft. Ich bekam Schwierigkeiten, eine Wohnung oder einen qualifizierten Nebenjob zu finden.
Mit der Zeit merkte ich, dass ich mich ganz automatisch auf die neue Situation einstellte: Ich vermied es, in der Öffentlichkeit Menschen anzusehen (so musste ich nicht in unverhohlen neugierige oder feindselige Gesichter blicken). Ich bewarb mich vornehmlich auf Stellen ohne Kundenkontakt und arbeitete lange an einem bevorzugten Arbeitsplatz kopftuchtragender Musliminnen: der Telefon-Hotline. Nach einigen grenzwertigen Begegnungen – z.B. dem Kommentar eines jungen Mannes im Bus „Leute wie dich muss man an die Wand stellen“ – vermied ich es auch, abends allein unterwegs zu sein. Wenn ich in anderen Städten unterwegs bin, informiere ich mich vorher über No-Go-Areas. Auch diese Angst war ein neues Gefühl: Neo-Nazis waren auf einmal eine persönliche Bedrohung für mich, nicht mehr nur für die Asylbewerber und weitere als ‚anders‘ markierte Menschen, mit denen ich mich immer solidarisch wähnte, von deren Erfahrungen ich aber überhaupt keine Vorstellung hatte.
Durch das Kopftuch habe ich viel gelernt. Ich bekam eine Ahnung davon, was es bedeutet, in Deutschland als „Ausländer“, „Türkin“ oder „Araber“ wahrgenommen zu werden. Natürlich war und bin ich immer noch privilegiert: Ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, bin Muttersprachlerin, konnte studieren und ich merke in vielen Situationen, dass ich es einfacher habe als meine Glaubensschwestern mit anderen Hintergründen. In meiner Schulzeit musste ich nicht die Erfahrungen machen, von denen mir meine heutigen Studentinnen berichten. Niemand unterstellte mir in diesen prägenden Jahren, dass ich unterdrückt und unselbstständig sei und bemühte sich, mich über meine Religion und mich selbst aufzuklären.
 
Die 90-er und 00-er Jahre: Kopftuch und Terror
Die Jahre nach 1996 – also nach meiner Konversion – waren auch die Jahre in denen der sogenannte „Kopftuchstreit“ die Medien und die Gesellschaft immer wieder beschäftigten. Für Musliminnen mit Kopftuch hatten die medialen Diskussionen immer direkte Auswirkungen auf den eigenen Alltag. Besonders bedrückend wurde die Situation in der Öffentlichkeit nach dem 11. September 2001 und den Anschlägen in London und Madrid, die in den nächsten Jahren folgten. Bis dahin war ich eher bemitleidet worden, jetzt stellte ich fest, dass Menschen auch Angst vor mir hatten. Ich musste kurz nach den Anschlägen von London im Jahr 2005 ein neues Büro beziehen und war mehrfach mit einem großen Rucksack voller Ordner und Bücher in der U-Bahn unterwegs. Man konnte vielen Passagieren ihre Unruhe ansehen und es kam vor, dass Menschen mit mir auf die gleiche U-Bahn warteten, dann aber doch lieber die nächste nahmen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall der kopftuchtragenden Lehrerin Fereshta Ludin im Jahr 2003 verging gefühlt kein Tag, an dem nicht ein Politiker, eine Publizistin oder ein Kirchenmann die Bedeutung des Kopftuchs kundtat: „Symbol einer mangelnden Gleichstellung von Frauen und Männern“, Ausdruck einer „fundamentalistischen Grundhaltung“, „Distanzierung von der Wertordnung des Grundgesetzes“, „bäuerliche Tradition“, „antidemokratisches Zeichen“, „blutiges Symbol der Gottesstaatler“. Muslimische Frauen mit Kopftuch wurden regelrecht erschlagen von Fremdzuschreibungen.
Ein Erlebnis aus dieser Zeit werde ich wohl nicht vergessen: Ich saß im Bus als ich plötzlich glaubte, in einer unvermittelten Bemerkung einer Frau hinter mir eine Anspielung auf mein Kopftuch verstanden zu haben. Das war wohl auch der Fall, denn ihr Begleiter erwiderte halblaut: „Scheiß-Islamisten.“ Ich drehte mich um, sprach beide an und sofort prasselten alle ihre Assoziationen auf mich nieder: Man würde doch sehen, was in diesen Ländern passiere, der Fundamentalismus... die Bomben... die Kopftücher, die mit Nägeln eingeschlagen werden... der Terror. Nachdem mir zwei Mädchen arabischer Herkunft argumentativ zur Hilfe gekommen waren, hetzten sie gegen Araber: „Die sollen dahin gehen, wo sie her gekommen sind, die Araber nutzen unsere Universitäten und wir zahlen die Steuern dafür, lernen tun sie trotzdem nichts...“. Als ich ihnen daraufhin ihren Rassismus vorhielt, begann die Frau mir meine psychologische Verfassung zu erläutern: Als Muslimin würde ich mich den anderen überlegen fühlen. Ich sei nicht offen. Ich könne nicht differenzieren. Und außerdem hätte ich keinen Kontakt zu Deutschen. Das ist nun für mich schon aus familiären Gründen unmöglich, änderte für sie am Sachverhalt aber gar nichts: „Deutsch dem Pass nach, aber nicht im Bewusstsein!“ Ich forderte sie auf, mir das deutsche Bewusstsein zu erklären, aber diese Frage war wohl zu schwierig, denn sie überließ die Antwort ihrem Begleiter. Für ihn war das Hauptmerkmal des deutschen Bewusstseins seine Abwesenheit: Es gäbe zu wenig deutsches Bewusstsein. Ich hingegen hätte ein islamistisches Bewusstsein.
Was mich am meisten an diesem Vorfall beunruhigte, waren nicht die Einstellungen und die Äußerungen dieses Paares. Es war die Selbstverständlichkeit mit der sie diese Äußerungen im öffentlichen Raum vortrugen und die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Verhalten von den anderen Anwesenden zugelassen wurde. In dem vollbesetzten Bus hielt es niemand außer den beiden Mädchen (die als Musliminnen mitangegriffen waren) für nötig, ein Wort zu sagen und diese Menschen in ihre Schranken zu weisen. Dass alle so taten, als hätten sie nichts gehört und nichts gesehen, machte mir Angst. Im Ernstfall würde ich vielleicht alleine dastehen. Damals schrieb ich in meinem Blog: „Was ist das für ein Klima, in dem Menschen keine Hemmungen haben, in der Öffentlichkeit jemanden zu beschimpfen, weil sie ihn oder sie als Angehörige einer bestimmten Religion erkannt haben? Was passiert, wenn solche Menschen die letzten Hemmschwellen hinter sich lassen können, weil niemand ihnen widerspricht, weil sie vielmehr ihre irrationalen Bedrohungsszenarien von PolitikerInnen, Kirchenvertretern und Medien bestätigt sehen? Was, wenn sie ihrem Hass dann nicht nur in Worten, sondern auch in Taten Ausdruck verleihen?“
Im Juli 2009 war es dann soweit: Ein Mann in Dresden ließ seinen Worten Taten folgen und ermordete mit 19 Messerstichen Marwa El-Sherbini, eine 31-jährige Ägypterin, Mutter eines dreijährigen Sohnes und schwanger mit dem zweiten Kind. Schon zuvor waren mehrere Frauen tätlich angegriffen worden und einige hatten nur knapp überlebt. Diese Tat, vor allem aber das Schweigen der Medien, die fehlende Solidarität von Gesellschaft und Politik verunsicherte viele Muslime zutiefst. Von der Bundeskanzlerin gab es eine Kondolenzadresse an den Präsidenten Ägyptens, aber kein Wort an Deutschlands Muslime. Es war einmal mehr deutlich geworden: Muslime gehören nicht wirklich dazu.
 
Analysieren als Überlebensstrategie
Als Nichtmuslimin hätte ich die Diskurse über den Islam und die Muslime in Deutschland wohl nie so genau verfolgt und ihre Auswirkungen auf Betroffene nicht selbst erlebt. Auch als Strategie um die persönliche Betroffenheit nicht zu groß werden zu lassen, habe ich mich auf die Analyse und das Schreiben verlegt, auf meinem eigenen Blog, den ich 2002 startete (al-sakina.de), und einem weiteren, den ich 2008 mit zwei Freundinnen gründete (nafisa.de). Würde ich jeden abwertenden Kommentar, jede Diskriminierungserfahrung, jeden tendenziösen Artikel im Feuilleton und jede reißerische Talkshow als gezielten Angriff auf den Islam und mich als Muslimin verbuchen, wäre das Ergebnis ein erdrückendes Gefühl der Ohnmacht. Stattdessen versuche ich, mir die gesellschaftlichen und medialen Machtstrukturen zu vergegenwärtigen, die hinter den einzelnen Akteuren stehen. Ich habe gelernt, dass Rassismus ein Verhältnis ist, das hergestellt und reproduziert wird, und in das wir alle mehr oder weniger verstrickt sind. Ich habe gelernt, dass die Verbindung bestimmter Diskurse mit dem Thema Islam nicht zufällig ist, sondern bestimmte Funktionen erfüllt: Die Verbindung der Diskussion über Frauenrechte mit dem Islamdiskurs hat zur Folge, dass mit der Darstellung der vermeintlichen Frauenfeindlichkeit des Islams Sexismus und Gewalt gegen Frauen einseitig den Anderen zugeordnet wird, während die eigenen Probleme de-thematisiert werden. Dies zeigt sich am deutlichsten in der skandalisierenden Darstellung von „Ehrenmorden“, während die weiß-deutschen „Familiendramen“ vergleichsweise unterbelichtet bleiben. Die Verbindung des Islamdiskurses mit der Diskussion über Freiheitsrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit, hat zur Folge, dass nur die Muslime als Gegner der Meinungsfreiheit erscheinen, während die Fähigkeit der Mehrheitsgesellschaft unterschiedliche Meinungen zuzulassen maßlos überschätzt wird. Wenn Probleme in Brennpunktschulen vor allem als Probleme muslimischer Familien dargestellt werden, d.h. soziale Fragen mit dem Islam verknüpft werden, hat dies die Funktion, diese Probleme nicht mehr als soziale, sondern als religiöse oder kulturelle erscheinen zu lassen. Es sind dann Probleme der Anderen und nicht die unseren, die wir gemeinsam angehen müssten. All dies hat entlastende Funktionen, dient der Bestätigung eines positiven Selbstbildes gegenüber einem negativ gezeichneten Anderen und sichert Privilegien.
Die Rassismusforschung legt nahe, dass es eine Illusion ist zu glauben, dass allein mehr Aufklärung über den Islam etwas ändern würde – eine Vorstellung, die man häufig unter Muslimen antrifft. Wenn ich also Vorträge zum Islam halte, erläutere ich zuerst wie und warum bestimmte Bilder entstehen und gepflegt werden, bevor ich Informationen zum Thema selbst gebe. Eine andere unter Muslimen gepflegte Vorstellung ist die, dass Muslime an ihrem Image arbeiten und ein besseres Bild in der Gesellschaft abgeben müssten. Diese Vorstellung ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Rassismen sind erstens nicht eine Reaktion auf das Verhalten einer anderen Gruppe, sondern erfüllen Funktionen für die eigene. Zweitens ist mit dieser Imagepflege häufig gemeint, nach den Vorgaben der Leistungsgesellschaft erfolgreich zu sein und durch das Beispiel des Arztes, des Ingenieurs oder eben der Karrierefrau mit Kopftuch zu zeigen, dass Muslime es in der Gesellschaft zu etwas bringen. Das ist aber nur eine Übernahme der dominanten Parameter, macht Anerkennung von Leistung abhängig und ist gleichbedeutend mit einer geistigen und spirituellen Niederlage.
 
Eine spirituelle Perspektive
In den letzten Jahren habe ich festgestellt, dass ich als gläubiger Mensch auch eine spirituelle Perspektive auf das Problem brauche. Besonders bewusst wurde mir dies in einer Situation nach einem Vortrag, den ich zum Bild der muslimischen Frau gehalten hatte. Ich hatte erläutert, wo das Bild der unterdrückten Muslimin herkommt, wie es aufrechterhalten wird, welche Funktionen es erfüllt und wie es sich auf das Leben von muslimischen Frauen auswirkt. Der Vortrag hatte, wie an den Wortmeldungen deutlich wurde, seine Wirkung nicht verfehlt und dennoch blieb bei mir ein schlechtes Gefühl zurück. Im Publikum waren viele Muslime, und ich hatte den Eindruck, ich hätte ihnen noch eine andere Perspektive bieten müssen. Dann stand auch noch ein junges Mädchen auf, berichtete von ihren Erfahrungen als Kopftuchträgerin und fing dabei an zu weinen. Mir wurde deutlich, dass wir als Muslime auch noch anders über dieses Thema sprechen müssen.
Wenn sich auch in mir trotz aller Reflexion und Analyse so viel Ärger und Unzufriedenheit aufstaut, besteht dann nicht die Gefahr, dass ich irgendwann unzufrieden werde mit dem was Gott mir zugedacht hat – mit anderen Worten mit Gott selbst? In einem von Muslimen beim täglichen Gottesgedenken (dhikr) häufig zitierten Ausspruch heißt es: „Was Gott will, geschieht, und was Er nicht will, geschieht nicht.“ Teil der muslimischen Glaubenslehre ist die Bestimmung. In der europäischen Rezeption häufig negativ als passive Schicksalsergebenheit beschrieben, ist damit tatsächlich gemeint, dass nichts ohne das Wissen, den Willen und die Macht Gottes geschieht. Gleichzeitig gehen Muslime davon aus, dass das Handeln Gottes niemals sinnlos ist: Seine Weisheit begleitet alles, was Er tut.
Angewendet auf rassistische Erfahrungen heißt das: Auch die Ungerechtigkeiten, die Diskriminierungen, die Herabsetzungen, sogar die Gewalt geschehen mit Gottes Wissen, aufgrund Seines Willens und durch Seine Allmacht. Und es liegt darin ein Sinn. Jemandem, der mit der islamischen Theologie nicht vertraut ist, scheint das vielleicht nicht einsichtig zu sein. Zur Erläuterung muss man hinzufügen, dass im islamischen Verständnis der Wille und das Wohlgefallen Gottes zwei verschiedene Dinge sind: Gott bringt durch Seinen Willen auch Dinge in die Existenz, mit denen Er nicht zufrieden ist, von denen Er sogar will, dass sich die Menschen dagegen einsetzen.
Auf der Suche nach dem Sinn denke ich zuerst an das, was ich aus eigener Erfahrung gelernt habe: Meine Erlebnisse haben mich sensibler gemacht gegenüber Rassismus und Diskriminierung im Allgemeinen. Sie haben mir erst bewusst gemacht, dass allein meine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Privilegien begründete, die anderen Menschen vorenthalten bleiben. Gleichzeitig sensibilisieren solche Erfahrungen mich aber auch für den Rassismus, der unter Muslimen vorhanden ist. Die Quellen des Islams betonen, dass der Vorzug eines Menschen gegenüber einem anderen in den Augen Gottes allein auf inneren Werten begründet ist („O ihr Menschen, Wir haben euch ja von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Gewiss, der Geehrteste von euch bei Gott ist der Gottesfürchtigste von euch.“ Koran 49, 13) – die Realität sieht oft genug vollkommen anders aus. Auch unter Muslimen gibt es rassistische Hackordnungen.
Der Islam ermöglicht mir aber auch einen Blick auf die spirituellen Ursachen rassistischen Verhaltens: Die Abwertung anderer Menschen, um sich selbst aufzuwerten und Privilegien zu sichern, entspringt letztlich einem kranken Herzen. Egoismus, Machtstreben, Geiz, Neid und Angst sind aber spirituelle Krankheiten von denen niemand frei ist. Die Pegida-Demonstranten halten uns einen Spiegel vor, in dem wir in grellem Licht unsere eigenen Krankheiten erkennen können. Es ist leicht, sich als Opfer moralisch höherwertig zu fühlen und darüber die Reparatur der eigenen Herzen zu vergessen.
Es hilft mir auch daran zu denken, dass Ungerechtigkeit Teil der Prüfung des Menschen ist. Ich kann Ungerechtigkeiten in meinem Umfeld bekämpfen, ich kann sie aber nicht vollständig beseitigen. Die Gewissheit, dass vollkommene Gerechtigkeit erst im Jenseits hergestellt wird, mögen unreligiöse Menschen als pie-in-the-sky-Glauben belächeln. Mir gibt sie die Möglichkeit, geduldiger mit den Dingen zu sein, die ich nicht ändern kann. Dass ich gleichzeitig weiß, dass ich mich für die Dinge verantworten werden muss, die ich ändern hätte können, gibt mir immer wieder Ansporn.
 
AkteurInnen statt Opfer
Kürzlich war ich wieder bei einer Dialogveranstaltung. In der Gemeinde in einer ländlichen Gegend bestand in Zeiten der intensiven Berichterstattung über das Vorgehen des IS in Syrien und wenige Wochen nach den Attentaten in Paris im Januar 2015 großer Diskussionsbedarf. Insgesamt war es eine positive Erfahrung und wir, eine Gruppe muslimischer Frauen unterschiedlicher Hintergründe, bekamen nach der Diskussionsrunde zahlreiche positive Rückmeldungen. Ein älterer Herr war aber offensichtlich nur gekommen, um am Ende ein Statement abzugeben: Seiner Meinung nach ließe sich der Islam nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren, er sei mit Feuer und Schwert verbreitet worden, hätte blühende christliche Landschaften vernichtet und überhaupt handele es sich weniger um eine Religion als um eine Ideologie. Während seinen Ausführungen betrachtete ich sein Gesicht. Sein Alter ließ mich an meinen Vater denken, der zwei Wochen später seinen 82. Geburtstag feiern würde. Ich sah in seinen Augen Feindseligkeit und Angst zugleich und es tat mir in diesem Moment leid, dass dieser Mann an seinem Lebensabend so viel Verbitterung mit sich herumtragen musste. Oft habe ich in solchen Situation selbst Feindseligkeit gegen den verbalen Angreifer in mir gespürt, diesmal überwog ein Gefühl der Anteilnahme. Mehr für die anderen Anwesenden als für ihn antwortete ich, dekonstruierte seine Annahmen, gab Hinweise auf qualifizierte Literatur und wollte doch am liebsten nur ein Bittgebet für ihn sprechen: dass Gott sein Herz von diesen Verhärtungen befreien möge.
Es gab noch weitere misstrauische und anklagende Wortmeldungen im Publikum und einige der Anwesenden bedauerten uns im Gespräch nach der Veranstaltung dafür, dass wir so viel mitmachen müssten. Das war aber weder mein Gefühl, noch das der anderen Frauen. Wir sind mit unserer Religion und dem Leben, das wir gewählt haben (ob konvertiert oder nicht) zufrieden, und dass andere Menschen sich daran stören, ist zunächst einmal deren Problem. Wir hatten uns für diesen Abend entschieden hierherzukommen, waren auf solche und ähnliche Kommentare vorbereitet. Wir waren keine Opfer, sondern Akteurinnen.
Silvia Horsch, April 2015
 
Postskriptum:
Nach dem Sommer der Willkommenskultur 2015 kam die Silvesternacht in Köln, ein Anlass, der genutzt wurde, um wieder alles auf Anfang zu stellen. Erneut diskutieren wir seitdem die angebliche Frauenfeindlichkeit und Gewaltaffinität des Islams - als würden Muslime nicht seit bald vier Generationen friedlich in Deutschland leben. Die AFD ist mit einem explizit islamfeindlichen Programm mittlerweile in acht Landtagen vertreten. Ich habe schon mehrere islamfeindliche Wellen anrollen und wieder abebben sehen und lasse mich nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen. Aber ich frage mich: Wann werden wir als Gesellschaft in der Lage sein, aus dem Hamsterrad hysterischer Stellvertreterdebatten auszusteigen und ernsthaft darüber nachzudenken, wie wir zusammen leben wollen? (August 2016)

P.P.S. [nicht im veröffentlichten Text enthalten]
Es ist das Jahr 2021 und der erste Jahrestag der Anschläge von Hanau ist einige Wochen her. Wie die Berichterstattung gezeigt hat, hat sich etwas verändert: Viele Beiträge haben konsequent aus der Perspektive der Überlebenden und der Familien der Opfer berichtet, die Fehler von Polizei und Behörden wurden offen angesprochen, hochrangige Politiker haben angemessen reagiert und sich nicht, wie damals Helmut Kohl in den 1990er Jahren, dem „Beileidstourismus“ verweigert. Natürlich bleibt dennoch ein tiefer Schmerz: über die Menschen, die wir verloren haben und darüber, dass es soweit kommen musste. Für von Rassismus und Islamfeindlichkeit Betroffene waren diese Anschläge keine Überraschung, sondern die logische Folge eines jahrzehntelangen Diskurses. Aus religiöser Sicht kann ich sagen: Die Prüfung geht weiter und mit Allahs Hilfe werden wir sie bestehen. (März 2021)